Unterstützt vom informellen „Freundeskreis Literatur libertär“ (Interessenten dürfen sich gerne melden), lobt die Zeitschrift eigentümlich frei im Jahr 2024 zum fünften Mal einen Literaturpreis aus. Sieger waren 2020 Helge Pahl, 2021 Jan Reindl, 2022 André Jasch und 2023 Bernd Zeller. Der Sieger 2024 erhält 30 Gramm Gold, der zweite Platz 20 Gramm Gold und der Drittplatzierte 10 Gramm Gold Preisgeld. Die drei Gewinner werden im Rahmen der achten großen ef-Konferenz vom 15. bis 17. November 2024 auf Usedom ausgezeichnet. In diesem Jahr bitten wir um eine Kurzgeschichte zum Arbeitsthema „Politik ist nicht die Lösung!“. Gewünscht ist ein – gerne humorvoller – fiktionaler Beitrag in der Länge von 10.000 bis 50.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Teilnahmeberechtigt sind alle, die Freude am Schreiben und an einer Geschichte haben, die zum Thema passt. Ausgewählte Kurzgeschichten werden veröffentlicht. Bitte senden Sie Ihren Wettbewerbsbeitrag bis zum 30. Juni 2024 per E-Mail mit Dateianhang und ein paar kurzen Angaben zur Person an: lichtschlag@ef-magazin.de
Wir freuen uns auf Ihre Geschichte!
Politik ist nicht die Lösung!
Das Werk „Carolinwoman“ von Bernd Zeller ist eine humorvolle und zugleich tiefgründige Geschichte, die das Abenteuer eines jungen Mädchens namens Carolin erzählt. Carolin navigiert durch die Herausforderungen des Alltags und die Dynamiken zwischen Kindern und Erwachsenen, während sie gleichzeitig mit der Idee von Superkräften und der eigenen Identität jongliert.
Die Erzählung beginnt mit Carolins Überlegungen zum Wert von Geheimnissen und führt uns in ihr Leben ein, das geprägt ist von kindlicher Neugier und der Suche nach ihrer Rolle in der Welt. Auf einem Geburtstagsfest trifft sie auf Luis, einen Jungen, der überzeugt ist, eine Superkraft zu besitzen, auch wenn er noch nicht herausgefunden hat, welche es ist. Dieser Glaube an außergewöhnliche Fähigkeiten wirft Fragen auf über das, was uns besonders macht und wie wir uns in der Gesellschaft positionieren.
Die Geschichte zeichnet sich durch eine Reihe von alltäglichen und zugleich außergewöhnlichen Begegnungen aus, die Carolin dazu bringen, über ihre eigenen Fähigkeiten und die Bedeutung von Freundschaft, Mut und Selbstakzeptanz nachzudenken. Sie konfrontiert die Leser mit der Idee, dass wahre Superkräfte vielleicht weniger in spektakulären Fähigkeiten liegen als vielmehr in der Kraft der Empathie, der Kreativität und der Fähigkeit, sich für andere einzusetzen.
Im Verlauf der Geschichte entdeckt Carolin, dass die wahren Helden des Alltags jene sind, die sich den kleinen und großen Herausforderungen des Lebens stellen, ohne dabei ihre Menschlichkeit zu verlieren. Sie lernt, dass wahre Stärke oft in der Fähigkeit liegt, sich selbst und anderen gegenüber ehrlich zu sein, und dass jeder auf seine Weise über besondere Talente verfügt.
„Carolinwoman“ ist somit mehr als nur eine Kindergeschichte; es ist eine Reflexion über die Bedeutung von Identität, Freundschaft und dem Mut, sich selbst treu zu bleiben. Bernd Zellers Werk fordert junge wie erwachsene Leser dazu auf, über die wahren Werte im Leben nachzudenken und zeigt, dass Heldentum in vielerlei Formen existiert.
Bernd Zeller ist Karikaturist, Verfasser des Lehrbuchs „Komik und Satire“, Betreiber der Online-Satirezeitung zellerzeitung.de, ehrenamtlicher Macher der Jenaer Seniorenzeitung „Rentnerisches Akrützel“, vormaliger „Titanic“-Redakteur, zwischenzeitlicher Neugründer von „Pardon“ sowie Mitbegründer der Jenaer Studentenzeitung „Studentisches Akrützel“. Er zeichnete unter anderem für „Thüringer Allgemeine“, „Die Welt“, „Süddeutsche Zeitung“ und schrieb Gags für die Harald Schmidt Show. 2023 gewann er den Libertären Literaturpreis mit diesem Beitrag.
„Nichts als die Wahrheit“ von André Jasch ist eine tiefgründige Erzählung, die sich mit den Herausforderungen des Journalismus, der Suche nach Wahrheit und der menschlichen Kapazität für Empathie und Veränderung auseinandersetzt. Der Protagonist, ein junger Journalist namens Arkadi, befindet sich in einem Dilemma zwischen seiner journalistischen Integrität und dem Wunsch, die Welt zu verändern. Auf einer Preisverleihung reflektiert er über seine Karriere und die Ereignisse, die ihn zu diesem Punkt geführt haben, während er mit verschiedenen Gästen interagiert, darunter Ulrich „Ulli“, ein erfahrener Reporter.
Arkadi teilt mit Ulli und dem Leser seine Erfahrungen, die von der anfänglichen Naivität über die harte Realität der Kriegsberichterstattung bis hin zu einer tiefen Krise reichen, die durch das tragische Schicksal einer verschleppten und schließlich in einem Brand umgekommenen Flüchtlingsmädchen, Nayla, ausgelöst wird. Arkadi hatte gehofft, durch seine Berichterstattung Veränderungen bewirken zu können, wird aber von der harten Realität eingeholt, die zeigt, dass journalistische Bemühungen oft an politischen und gesellschaftlichen Grenzen scheitern.
Der Roman kritisiert die Sensationslust und Oberflächlichkeit der Medienlandschaft und stellt die Frage, was es bedeutet, in einer Welt, in der Nachrichten zunehmend von Misstrauen, Desinteresse oder gar Ablehnung begleitet werden, ein Journalist zu sein. Durch die Augen Arkadis und seiner Interaktionen, insbesondere mit Ulli, werden Themen wie Verantwortung, ethische Grenzen des Journalismus und die persönliche Belastung durch die Konfrontation mit Leid und Ungerechtigkeit behandelt.
Im Laufe der Handlung wird deutlich, dass Arkadi trotz der Zweifel und der erlittenen Verluste seine Mission nicht aufgibt, der Wahrheit eine Stimme zu geben. Seine Geschichte ist eine Hommage an den Journalismus als Berufung, gekennzeichnet durch das ständige Ringen um Wahrheit, Authentizität und Menschlichkeit. Der Beitraf endet mit einer Preisverleihung, auf der Arkadi trotz seiner inneren Konflikte und der Skepsis gegenüber der Bedeutung solcher Auszeichnungen den Preis für die Reportage des Jahres erhält und ihn dem Andenken Naylas widmet. Dieser Moment unterstreicht die Ambivalenz des Protagonisten gegenüber seinem Erfolg und der Rolle der Medien in der Gesellschaft, während er gleichzeitig die Hoffnung nicht aufgibt, dass Geschichten wie die seine letztendlich doch einen Unterschied machen können.
André Jasch wurde in Brandenburg an der Havel geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin und Neurowissenschaften in Osnabrück. Er absolvierte 2017 eine einjährige Autorenausbildung im „Haus des Schreibens“ in Berlin, geleitet von Julia Powalla, das in der Anthologie „Ging mir nie besser“ mündete. Außerdem nahm er an einem von Kathrin Lange geleiteten Schreibseminar zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls teil, das zur Anthologie „Der geheilte Himmel“ führte. Heute hat er seinen Lebens- und Schaffensmittelpunkt wieder in Berlin. Dort verdient sich der gebürtige Havelländer seine Brötchen als Redakteur. Wenn er nicht gerade in den Untiefen der Finanzwelt recherchiert, dann schreibt er an seinem ersten Roman. Seine Neugier gilt dabei jungen Pianisten, alten Lektoren und dem Braunkohleabbau – ein Gesellschaftsroman ist im Entstehen.
„Resilienz“ von Jan Reindl erzählt die Geschichte eines Spähers, der in einer dystopischen Zukunft lebt, in der Menschen in einer streng kontrollierten Gesellschaft innerhalb einer gigantischen Pyramidenstadt leben. Jeder Einzelne ist mittels einer neuronalen Schnittstelle in ein kollektives Bewusstsein eingebunden, das von einem Zentralrechner gesteuert wird. Der Protagonist, ursprünglich Teil dieser Gesellschaft, findet sich nach einem Angriff außerhalb der Stadt wieder, isoliert von dem Kollektivbewusstsein und seiner Gruppe. In der Wildnis beginnt er, die Realitäten seiner Existenz und die Bedeutungen von Freiheit und Individualität zu hinterfragen.
Nachdem er von einer Frau namens Lia gerettet und seiner neuronalen Schnittstelle beraubt wird, erlebt er die Welt außerhalb der Stadtgrenzen erstmals bewusst. Lia öffnet ihm die Augen für eine Welt, die frei von der Kontrolle durch den Zentralrechner ist, und lehrt ihn, das Leben außerhalb der restriktiven Gesellschaft zu schätzen. Der Protagonist entscheidet sich, nicht in die Stadt zurückzukehren, sondern sein neues Leben in Freiheit zu erforschen. Er nimmt den Namen William an und widmet sich der Aufgabe, anderen Bewohnern der Pyramide zu helfen, ebenfalls zu entkommen und die Wahrheit über ihre Welt zu entdecken.
Das Werk untersucht Themen wie Autonomie, das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit und die Frage, was es wirklich bedeutet, frei zu sein. Es ist eine tiefsinnige Reflexion über die menschliche Natur, den Wert individueller Freiheit gegenüber kollektiver Sicherheit und die Suche nach Identität in einer überwachten und kontrollierten Gesellschaft.
Jan Reindl ist Lehrer und gewann 2020 mit einer Science-Fiction-Kurzgeschichte den Libertären Literaturpreis. In ef 202 schrieb er zuletzt über „Politik in Zeiten der Pandemie: Begeht die Regierung eine Dummheit?“.
„Leewer duad üs slaav“ von Helge Pahl ist ein literarisches Werk, das eine spannende Geschichte aus zwei unterschiedlichen Zeitperioden erzählt, die auf faszinierende Weise miteinander verwoben sind.
Im ersten Teil der Erzählung befinden wir uns im späten 19. Jahrhundert in Berlin, wo der neue Reichskanzler von Caprivi mit den Herausforderungen seiner Amtszeit konfrontiert wird, insbesondere mit der bevorstehenden Unterzeichnung eines bedeutenden Vertrages, der die Neuordnung der deutschen und britischen Einflusssphären in Afrika regelt. Dieser historische Kontext wird lebendig durch die Darstellung politischer Manöver, diplomatischer Spannungen und der strategischen Bedeutung der Insel Helgoland, die Deutschland im Austausch für territoriale Konzessionen in Afrika von Großbritannien erwerben möchte. Die Komplexität internationaler Beziehungen und die machtpolitischen Spiele der Zeit werden durch die Figur des Reichskanzlers und seiner Auseinandersetzung mit den Briten und dem Sultan von Witu anschaulich dargestellt.
Der zweite Teil versetzt den Leser in das Jahr 2024, auf die Insel Helgoland, die von einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise gezeichnet ist. Im Mittelpunkt steht Freerk Rickmers, ein gebürtiger Helgoländer, der nach Jahren im Ausland auf die Insel zurückkehrt. Die Beschreibungen seines Heimkehrerlebnisses und der Veränderungen auf Helgoland zeichnen ein eindrückliches Bild der Auswirkungen der Globalisierung und ökonomischer Verwerfungen auf lokale Gemeinschaften. Rickmers' Begegnungen und Gespräche mit alten Freunden und Verwandten führen schließlich zu einem radikalen Plan: die Unabhängigkeitserklärung Helgolands, inspiriert durch historische Verträge und das unerschütterliche Streben nach Selbstbestimmung.
Der Roman thematisiert zentrale Fragen der Identität, Zugehörigkeit und des politischen Selbstverständnisses. Er verwebt geschickt historische und zeitgenössische Ereignisse, um eine Geschichte von Widerstand, Freiheitsstreben und der Bedeutung von Heimat zu erzählen. Die Charaktere, sowohl historische als auch fiktive, sind tiefgründig und facettenreich gestaltet, ihre Motivationen und Handlungen spiegeln die komplexen Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeiten wider.
„Leewer duad üs slaav“ ist somit nicht nur ein spannender historischer Roman, sondern auch eine tiefgehende Reflexion über die Bedeutung individueller und kollektiver Freiheit, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und die unermüdliche Suche nach einer besseren Zukunft.
Helge Pahl erlernte den Beruf des Kunstschmieds, studierte Germanistik und Skandinavistik, ist Unternehmer, Hobbybrauer, Mitbegründer der Wacken-Brauerei und Biersommelier. Er lebt zusammen mit seiner Frau und drei Kindern in Schleswig-Holstein. 2020 gewann er mit einer Science-Fiction-Kurzgeschichte den Libertären Literaturpreis
Wettbewerbsbeitrag bis zum 30. Juni 2024 per E-Mail mit Dateianhang und ein paar kurzen Angaben zur Person an lichtschlag@ef-magazin.de
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Soll ich es verraten?
Ja, ich weiß, dann ist es kein Geheimnis mehr. Und die meisten Geheimnisse sind gar nicht mehr so toll, wenn man sie erfahren hat. Sie sind nur interessant, solange man sie noch nicht weiß, stimmt‘s? Oder hat es schon mal jemand erlebt, dass er zu einem Geheimnis, das er erfahren hat, gesagt hätte: „Mann, dieses Geheimnis hat es aber in sich, das ist ja ein echtes Übergeheimnis! Sagenhaft! So was habe ich ja noch nie gehört!“? Geht mir genauso.
Aber jetzt ist es so, ich kann gar nicht alles sagen, weil ich gar nicht alles weiß. Noch nicht, ich kriege es bestimmt bald heraus, und dann ist es ganz sicher immer noch toll, denn es geht um jemanden, der sehr wahrscheinlich eine Superkraft besitzt.
„Carolin! Wir sehen dich nicht!“
Das sind meine Eltern, die da rufen.
Ich komme hinter dem Baum hervor und hüpfe zum Spielplatz zurück, es ist nämlich gerade ein Geburtstagsfest auf dem Spielplatz, und es läuft ein Sackhüpfen um den Sandkasten herum. Geburtstag hat Sophia-Anne, sie ist ein Jahr älter als ich und geht schon in die fünfte Klasse. Eigentlich bin ich gar nicht näher mit ihr befreundet, sie ist außerdem oft garstig, aber meine Eltern kennen ihre, und da sollte es nicht so aussehen, als würde ich sie nicht leiden können.
Es sind noch einige andere in meinem Alter da, und auch Luis, der Junge, der sich sicher ist, über eine Superkraft zu verfügen, aber noch nicht herausgefunden hat, welche es ist.
„Sackhüpfen ist es offensichtlich nicht“, sage ich zu ihm, denn er ist beim Springen gestolpert und liegt im Gras.
„Soll ich dir helfen?“, frage ich.
„Nicht nötig“, sagt er stolz, sodass ich glaube, er fliegt gleich davon. Aber Fliegen ist es ja nicht, das hat er schon gleich als Erstes herausgefunden. Stattdessen kommen mehrere Eltern, die nicht alle die seinigen sein können, angerannt, meine sind auch dabei, sie helfen ihm auf und suchen ihn nach blauen Flecken und schmerzenden Stellen ab. „Hat jemand ein Stethoskop dabei?“, fragt eine Mutter, das ist so ein Ding, mit dem Ärzte einen abhorchen.
„Es geht schon“, sagt Luis, „es tut nichts mehr weh.“
„Wirklich?“, fragt seine Mutter und unterdrückt ein Schluchzen.
„Hier ist eins“, sagt jemand und reicht ihr so ein Stethoskop. Sie hört ihn am Rücken und an der Brust ab und vergleicht etwas auf ihrem Handy.
„Das ging ja nochmal gut“, sagt sie bald. „Wir setzen uns lieber alle wieder hin und naschen von den Möhrenplätzchen. Das Sackhüpfturnier ist vorüber!“, ruft sie.
„Und wer ist Sieger?“, frage ich.
„Wie meinst du das?“, fragt sie mich mit verblüfftem Gesicht.
„Na, wer gewonnen hat. Das Sackhüpfen.“
„Aber ... wo es Sieger gibt, gibt es doch auch Verlierer? Wir wollen doch hier keine Verlierer, ich meine, dass sich jemand als Verlierer fühlt. Weißt du was, gewonnen hat, wem es am meisten Spaß gemacht hat. Wem hat es denn am meisten Spaß gemacht?“
Alle schreien: „Iiiich!“
„Sehr schön“, sagt sie lachend, „dann haben alle gewonnen und bekommen einen HappyMiezi-Luftballon. Na, seid ihr damit einverstanden?“
Eigentlich haben nicht alle gerufen. Ich habe nicht „Iiich!“ geschrien, das hat aber niemand bemerkt, deshalb bekomme ich auch einen HappyMiezi-Luftballon mit Kätzchen-Gesicht. Nicht, dass ich keinen Spaß dabei gehabt hätte, aber ich dachte, den meisten Spaß hätte Fritz gehabt. So war es ganz bestimmt, und die anderen haben gemogelt. Bevor alle auseinandergehen, will ich nochmal Luis schnappen und fragen, wie er überhaupt auf die Idee mit der Superkraft gekommen ist. Wenn er sich das nur ausgedacht hat, um sich interessant zu machen, hat es nicht funktioniert, denn wirklich interessant wird es ja erst, wenn man sie auch anwenden kann. Behaupten können alle so was.
„Luis, komm“, wird er von seiner Mutter weggerufen. „Schau, die Carolin ist auch schon ganz müde und will nach Hause, ihr seht euch doch morgen in der musikalischen Früherziehung für Fortgeschrittene.“
„Danke, ich möchte keine Tomaten“, sage ich am Abendbrottisch.
„Warum habe ich sie denn dann hierhergestellt?“, fragt Papa mit beleidigtem Ton, Mama reißt die Augen auf und fragt: „Wie, bist du etwa gegen Tomaten allergisch?“
Das ist für mich jetzt schwierig. Ich möchte einfach im Moment keine Tomaten mehr essen, aber wie soll ich das erklären? Allergie habe ich schon mal gehört, ich wurde auf Pollen getestet, aber soweit ich es verstanden habe, könnte ich Pollen essen. Sind Tomaten aus Pollen?
„Bestimmt nicht gegen alle“, versuche ich zu erklären. „Aber manchmal bekomme ich doch nach roten Lebensmitteln so ein verquollenes Gesicht. Wie es bei denen ist, ich kann es ja mal probieren.“
„Nein, nein“, Mama reißt mir die Tomate aus der Hand, „das werden wir mal genau überprüfen, lass die jetzt liegen. Wir haben kein Gegenmittel im Haus.“
Ich sehe Luis nach dem Yoga im Klangraum. Die Musikbegleiterin Frau Göfel-Irgendwas hat uns Töpfe, Waschbretter und Hölzer hingestellt, wir sollen uns ausdrücken, indem wir darauf schlagen und Töne erzeugen. „Früher mussten die Kinder Tonleitern lernen“, sagt sie in jeder Stunde.
Ich schrubbe mit einem Schneebesen auf dem Waschbrett, sie ruft mir zu: „Toll, dieser Rhythmus“, dabei mache ich das nur, um zu Luis etwas sagen zu können. Ich frage: „Wieso bist du überhaupt so sicher, dass du eine Superkraft hast, wenn du nicht weißt, welche? Wie bist du darauf gekommen?“
Er beginnt zu erzählen, doch als Frau Göfel-Irgendwas seine Stimme hört und zu ihm herüberblickt, stimmt er schnell einen Gesang an, der zu meinen Waschbretttönen und seinen Schlägen mit dem Schneebesen auf das Kuchenblech passt, woraufhin die Musikbegleiterin beglückt guckt.
„Es ist logisch“, sagt Luis nach der Stunde zu mir. „Es gibt keine andere Erklärung.“
„Wofür?“, frage ich.
„Wir werden doch von unseren Familien ganz schön gelangweilt. Ich jedenfalls. Wir sind unauffällig, angepasst, es darf keine unvorhergesehenen Vorkommnisse geben. Oder?“
„Schon, irgendwie.“
„Ich sehe dafür nur einen einzigen möglichen Grund. Das hier ist meine Tarnidentität. Die Familie muss Normalität vortäuschen. In Wirklichkeit sind wir Superhelden.“
„Na ja“, sage ich zögernd, mehr fällt mir nicht ein, auch keine andere Erklärung.
„Luis, komm“, ruft seine Mutter, „der Sprachkurs fängt an. Kommst du allein zurecht? Mach bitte deine Schutzkleidung nicht nass, sie ist kreidestaubabweisend, aber nicht imprägnierbar. Ich besuche unterdessen die Einführung in das Kochen ohne Hitze. Bis dann.“
„Du, Mama“, frage ich am Abendbrottisch, „haben wir irgendwas, ich meine, vielleicht etwas an bestimmten Eigenschaften?“
Mama guckt fragend zu Papa, dann wieder zu mir. „Wie meinst du das, Caro?“, fragt sie zurück.
„Ich meine Besonderheiten. Oder eine.“
„Etwa so was wie Krankheiten?“, fragt Papa, worauf Mama schnell sagt: „Das meint sie doch nicht, nein Caro, wir haben keine Krankheiten, und wenn doch, dann wäre das nichts Schlimmes, viele Menschen haben Eigenschaften, die als Krankheit gelten, führen aber ein völlig normales Leben. Heutzutage gibt es für alles Therapien und Gruppen.“
„Ich habe auch nicht Krankheiten gemeint, sondern, na, wie soll ich sagen, vielleicht dass wir eher im Sinne von Begabung über irgend sowas verfügen.“
Mama atmet auf. „Na, jedes Kind verfügt über Begabungen. Phantasie und Begabung.“
Papa merkt, dass mir die Antwort nicht reicht, obwohl ich nichts darauf sage, und findet: „Manchmal stellt es sich erst viel später heraus, weißt du.“
„Also sollen wir unsere Kräfte der Welt zur Verfügung stellen?“, frage ich nach.
Mama ist plötzlich aufgebracht: „Fühlst du dich etwa unter Druck gesetzt? Niemand verlangt von dir, hochbegabt zu sein. Du brauchst dich überhaupt nicht anders zu fühlen, du bist ganz normal, wir sind alle ganz normal. Kein Grund zur Beunruhigung.“
Also doch.
Ich denke, mit dem Ausschlussverfahren erfahre ich am meisten. Es ist nicht Fliegen, da bin ich mir sicher. Ich kann es ja mal probieren, aber aus dem Stand. Nichts, wie ich mir dachte. Ob ich den freien Fall zum Start brauche, teste ich nicht. Das wäre sehr, sehr unwahrscheinlich, überhaupt ist das Fliegen ohne Flügel, ohne Tragflächen, ohne Raketenantrieb und ohne Ballon nicht möglich, das kann als gesichert gelten. Sonst würde man das häufiger zu sehen kriegen, oder nicht? Ich bilde mir nicht ein, dass ausgerechnet ich diejenige sein soll, die die Erdanziehungskraft aufheben kann.
Obwohl, ich müsste ja nur meine eigene Schwerkraft aufheben, nicht die der ganzen Erde. Ich konzentriere mich. „Machst du Meditationsübungen?“, fragt meine Mama.
„Nein, ich denke nur angestrengt nach“, beruhige ich sie.
„Wenn es dir zu anstrengend wird, sag lieber vorher Bescheid, vielleicht können wir zusammen nachdenken. Oder herausfinden, wer schon einmal darüber nachgedacht hat und zu welchem Ergebnis sie oder er gekommen ist.“
„Mach ich.“
„Worüber hast du denn nachgedacht?“
„Ach, na ja, ob ich eine bestimmte Kleidung benötige.“
„Markenkleidung ist teuer, aber wenn ihr in der Clique alle die gleichen Marken tragen müsst, dann, hm. Dann überleg, was wir woanders einsparen können.“
„Ja, gut, aber im Moment dachte ich, ob es für Aktivitäten bestimmte Kleidung gibt. Superman, Batman, Spiderman, alle haben so was.“
„Ach so, du meinst Schutzkleidung. Das ist gut, dass du daran denkst. Einen Helm hast du zum Fahrradfahren, und Skateboard machst du ja nicht. Wenn doch, dann üb vorher gründlich.“
„Kennst du einen Luis?“, fragt mich Mama aufgeregt mit dem Telefon in der Hand.
„Ich kenne zwei Luise, du doch auch den einen, der letztens mit im Park bei dem Geburtstag war, warum?“
„Weil hier gerade einer anruft und dich sprechen will; hast du ihm unsere Telefonnummer gegeben?“
„Ja, für den Fall, dass ich ihm in Mathematik helfen soll. Es ist doch okay, wenn ich das tue?“ Das stimmt zwar nicht, aber das schien sie zu beruhigen.
„Ich richte ihm aus, dass du ihm helfen kannst. Heute um vier hast du Zeit.“
Wir treffen uns in dem Park, weil wir es beide dahin gleich weit haben. Unsere beiden Mütter setzen sich an einen Tisch vor dem Kiosk mit je einem Becher Kaffee. Sie haben einander wiedererkannt und plaudern darüber, was sie in Zeitschriften gelesen haben und in Online-Foren, ich schnappe nur auf, wie die Mama von Luis problematisiert, ob Erfolgserlebnisse nicht falsche Anreize setzen.
„Ich habe es herausgefunden.“ Luis strahlt.
Er erwartet vermutlich, dass ich frage, was er herausgefunden hat.
„Wie schön für dich“, sage ich.
„Ich dachte, es interessiert dich.“
„Oh ja, das hat es, jetzt weiß ich es ja. Du hast es herausgefunden.“
„Du willst nicht wissen, was?“
„Deine Superkraft, nehme ich an. Aha, du hast herausgefunden, welche es ist. Das finde ich großartig.“
„Ja genau. Also, meine Superkraft besteht in Folgendem, ich kann sehen, ...“
„Das ist ja klasse, das kann ich auch. Ist bloß keine Superkraft, höchstens in einem sehr weiten Sinne, denn es ist schon super, dass man sehen kann.“
„Warte doch mal ab, was ich sagen will. Ich sehe, wenn jemand lügt.“
„Was? Glaube ich nicht.“
„Doch, das tust du. Du hast gerade gelogen.“
Ich muss zugeben, das verblüfft mich.
In dem Moment sehe ich einen großen braungrauen Hund heranjagen, er rennt um uns herum, dann schnüffelt er an der Schultasche, die Luis abgestellt hat, und kratzt mit dem Zahn einen Riss in den Stoff.
Das Frauchen, also seine Besitzerin, eine Dame mit ebenfalls graubraunen Haaren, ruft: „Ihr dürft ihn nicht reizen!“
„Tut mir leid, aber wir waren zuerst hier“, rufe ich zurück. Sie hält den Hund am Halsband fest, ich fixiere ihn mit den Augen, worauf er heftig kläfft.
„So etwas tut er sonst nie“, sagt die Dame angesichts des Risses in der Schultasche.
„Oh doch“, sagt Luis bestimmt, „das ist nicht das erste Mal.“
Ihr verschlägt es für einen Moment die Sprache, dann wendet sie sich mir zu und sagt in beleidigtem Ton: „Er mag es nicht, wenn man ihm in die Augen schaut.“
„Und ich mag es nicht, angekläfft zu werden.“
Unsere Mütter eilen herbei, die Dame fragt: „Sind Sie die Eltern?“, worauf meine Mama sagt: „Die beiden haben es bestimmt nicht böse gemeint, sie mögen Hunde sonst sehr, da muss wohl in der Tasche etwas sein, worauf Ihr Hund scharf ist“, und die Mama von Luis fährt fort: „Der kleine Riss lässt sich nähen, das macht nichts.“
Luis flüstert zu mir: „Wir dürfen nicht auffallen.“ Ich nicke.
Nachdem sich Hund und Halterin entfernt haben, sagt meine Mama zu der von Luis: „Carolin mag Tiere und überhaupt die Natur viel lieber als Fernsehen.“ Luis schaut zu mir und schüttelt den Kopf, ich nicke, ja, er hat es wieder gemerkt.
Wie er das macht, hat er nicht verraten, er hat nur angedeutet, er würde eine Verdunkelung der Aura sehen, wenn jemand eine Lüge sagt, jedenfalls solle ich es mir so vorstellen, genau ließe es sich nicht beschreiben.
Bei mir aber muss es sich um etwas anderes handeln, ich sehe nichts von Aura und Verdunkelung, ich kann nicht sofort erkennen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Manchmal kommt es doch vor, dass jemand glaubt, was er sagt, obwohl es nicht stimmt; wird die Aura dann leuchtend gelb oder verwirbelt?
Keine Ahnung, bei mir muss es sowieso etwas ganz anderes sein. Das stelle ich fest, als ich hinter mir ein Scheppern höre. Ein Radfahrer ist über die Fußgängerampel gefahren und dabei gegen den Trolli einer älteren Frau gestoßen. „Ich hatte Grün! Ich hatte Grün!“, ruft er wie wild, ganz offensichtlich gelogen, ich sehe aber nichts. Ich rufe nur hinüber: „Nein, Sie hatten Rot, für die Fußgänger war Grün!“ Er guckt verdutzt.
Vielleicht ist meine Funktion ja auch die des Gehilfen. Kann doch sein. Ich beschaffe Luis die Fälle, wäre doch möglich, oder?
Als ich Luis diesen Gedanken mitteile, schüttelt er den Kopf. „Unwahrscheinlich“, befindet er, „das wäre Vergeudung von Kapazitäten. Ich brauche keinen Gehilfen, jedenfalls nicht dringend. Teste lieber weiter. Vielleicht bist du extrem elastisch oder magnetisch.“
„Na gut, wir sehen uns später. Ich muss zu denen hinüber.“
Das ist die Clique. Ich gehöre, soweit ich auf dem neuesten Stand bin, noch dazu. Die vier stehen, das klingt vielleicht jetzt seltsam, im Kreis. Ich weiß auch nicht, wie sie das machen, sie stehen nicht im Viereck, sie bilden einen Kreis.
„Carolin, na so was. Ich habe gar nicht bemerkt, dass jemand fehlt.“ Das ist Marike, die Nummer zwei. Eigentlich gibt es gar keine Nummern in der Clique, aber Marike möchte die Nummer eins werden, das ist allen klar, auch wenn es niemand sagt, genauso wie dass die Nummer eins niemand anderes als Emmalisa ist. Dann sind da noch Alina, Zara und ich. Marikes böse Spitze ist gar nicht ungünstig für mich gewesen, dadurch haben sich die anderen zu mir gewandt und den Kreis geöffnet, sodass ich mich dazustellen kann.
Bevor ich etwas sagen kann, muss die Chefin ihre Position festigen und zeigen, dass sie noch garstiger sein kann. Sie sagt: „Carolin braucht noch etwas Zeit, um durch uns wieder ihren Coolnessfaktor zu steigern. Falls sie das überhaupt will. Du scheinst ja auf Coolness keinen Wert zu legen, Carolin, so wie du immer mit diesem Luis abhängst.“
Marike stimmt zu: „Na, er passt ja zumindest zu ihren Schuhen.“
„Wieso, die sind doch supermodern, die nehmen schon die übernächste Retro-Welle vorweg.“ Das hat Zara gesagt, sie kann auch ganz schön schnippisch sein.
Emmalisa braucht die nächste Steigerung: „Warum ziehen wir uns nicht alle wieder wie Vorschulkinder an und schmücken uns mit Prinzessin-Glitzerkätzchen-Schnickschnack?“
Alle lachen bei der Erinnerung an Prinzessin Glitzerkätzchen.
„Vielleicht, weil du damals keinen gehabt hast?“, entgegne ich.
Emmalisa guckt empört. „Was? Ich habe alles von Prinzessin Glitzerkätzchen!“
Alle kichern.
„Jetzt natürlich nicht mehr. Aber als es angesagt war, habe ich alles gehabt!“
„Nein, hattest du nicht“, ruft Luis dazwischen. Ich signalisiere ihm, dass er sich da lieber heraushält.
Chefin Emmalisa braucht Text, um in der Szene zu bleiben, darum sagt sie langgezogen: „Ach, Luis. Der ist nett“, mit besonders abschätziger Betonung von nett. Die anderen stimmen ein: „Ja, total nett.“
„Nett ist die kleine Schwester von Kacke“, setzt Emmalisa drauf.
„Dann musst du wohl die große sein“, entfährt es mir.
Stille. Die Clique scheint sich einig zu sein, dass sie das nicht gehört hat, weil es nicht passiert sein kann.
Das Schulklingeln rettet die Situation, wir trotten hinein.
Das mit den Schuhen, das ist natürlich ein Problem. Ich habe zu Hause schon gesagt, dass ich auch die Schuhe brauche. Geht aber nicht. Keine Ahnung, woher ich die Schuhe kriegen soll.
Schuhe umwandeln in die angesagte Marke, das vermag ich jedenfalls nicht, das wäre auch keine Superkraft, sondern Zauberei.
Am nächsten Tag bin ich schon früher vor der Schule, damit ich nicht erst zu der Clique hinzutreten muss, wenn sie formiert ist. Es ist einfacher, schon dabei zu sein, wenn die Restlichen ankommen, als später mit dazuzuwollen.
Marike kommt zur selben Zeit wie ich, das ist gut, wir sind zu zweit, natürlich werde ich mich den anderen gegenüber öffnend verhalten. Marike sagt: „Carolin, nimm es nicht persönlich.“ Oh, na was kommt jetzt? „Deine Frisur geht als witzig durch, deine Klamotten sind praktisch. Denk nicht, wir wären oberflächlich. Aber ich kann mich nicht blamieren. Es tut mir wirklich leid. Aber auf meiner Geburtstagsparty kann ich niemanden mit solchen Tretern empfangen, wie du sie trägst. Das soll nicht heißen, dass du deinen Stil ändern musst, wir sind offen für besondere Eindrücke. Ich möchte nur, dass du es nicht krummnimmst, wenn ich dich nicht einladen kann.“
Den Ton abdrehen oder den Schall neutralisieren, das ist es also auch nicht, wie ich feststellen muss.
„Ich hoffe, du verstehst mich“, redet sie weiter. „Und hier, bitte nimm, ich habe PinkCake-Muffins für alle mitgebracht, auch für die, die nicht kommen können. Und wenn du, also es könnte ja sein, dass du bis heute Nachmittag noch irgendwo die Schuhe auftreiben kannst, vielleicht borgen, dann natürlich, dann komm in das Hofcafé. Du bist ja nicht ausgeladen.“
Es scheint sie zu verwirren, dass ich ruhig bleibe. Sie könnte mir fast leidtun dafür, dass sie beliebter sein möchte, als sie es sich selbst ermöglicht.
Kurz vor dem Klassenzimmer erschallt ein Schrei, wie ich ihn noch nie gehört und ganz sicher auch noch nie von mir gegeben habe, durch den Schulflur. Er wird durch Schnappatmung unterbrochen, bevor er unvermindert weitergeht, bis er in ein unverständliches Stammeln übergeht.
Ich erkenne nur die Stimme, sie gehört zu der Direktorin Frau Plötzsch. Sie muss eine Maus gesehen haben, eine genveränderte Maus vielleicht.
„Wie viele hast du davon schon verteilt?“, schreit Frau Plötzsch Marike an, die mit großen Augen auf sie starrt. „Etwa die ganzen?“ Sie hat die fast leere Packung Pink-Cake-Muffins Marike aus der Hand gerissen und hält sie fuchtelnd vor sie.
„Das ist Zucker!“, schreit sie durchdringend. „Wir sind eine zuckerfreie Schule!“
Im Comic wäre dieser Satz in einer großen Sprechblase mit riesigen, dicken Buchstaben gedruckt.
Ich nähere mich langsam, nehme den letzten PinkCake-Muffin heraus und sage: „Noch nicht alle, aber jetzt schon“, dann schiebe ich ihn mir in den Mund und schlucke ihn herunter.
Für einen Moment ist es ruhig. Der Schock muss ihren Anfall beendet haben. Jetzt wäre es ganz gut, wenn das Klingelzeichen kommen würde, eigentlich müsste es längst geklingelt haben. Dafür ruft Luis zu mir herüber: „Komm, die Stunde fängt an.“ Ich tue so, als würde mich das daran erinnern, warum ich hier bin, nämlich um zum Unterricht zu gehen.
„Nicht so eilig!“, bremst mich Frau Plötzsch. „Ihr bleibt hier! Die Stunde beginne ich, und hier ist ja wohl noch einiges zu klären.“
Ich mache Kaubewegungen, obwohl ich den Muffin bereits verschluckt habe, um zu zeigen, dass mir eine Unterhaltung im Moment sehr ungelegen kommt, weil man mit vollem Mund nicht redet.
Frau Plötzsch baut sich vor Marike und mir auf, andere Schulkinder stehen mit Sicherheitsabstand um uns herum und gucken.
Ich habe erwartet, dass Frau Plötzsch einen Vortrag über die Risiken des Zuckers und das Konzept der zuckerfreien Schule halten und uns zur Einsicht in unser gemeingefährliches Verhalten gemahnen würde, doch sie sagt nur mit strengem Blick: „Ihr habt ein Suchtproblem. Je eher ihr darüber redet, desto besser für euch.“
Da bin ich baff, Marike stehen die Augen offen, auch die anderen stehen erstarrt.
„Hat von euch sonst noch jemand ein Zuckersuchtleiden? Der Schulpsychologe Doktor Haselmaus kann euch Angebote machen.“ Alle schauen zu Boden.
Frau Plötzsch lächelt zufrieden. „Ich komme ja auch ohne Zucker aus“, möchte sie die Sache abschließen, da blickt Luis zu mir und deutet ein Kopfschütteln an.
„Das stimmt nicht!“, rufe ich.
Frau Plötzsch guckt verdutzt, ein Raunen erklingt in der Menge.
Sie presst erst ihren Mund zusammen, dann sagt sie betont ruhig zu mir: „Du kannst dir das natürlich nicht vorstellen, ich verstehe. Doktor Haselmaus wird gleich da sein, ich schlage vor, du nimmst sein Gesprächsangebot gleich an.“
„Der steckt doch da mit drin!“, sage ich laut und deutlich, für alle vernehmbar. Frau Plötzsch zuckt leicht zusammen.
„Nein, das tut er nicht. Es gibt überhaupt nichts zum Mit-Drinstecken!“
Luis signalisiert: Falsch!
Da bin ich ja nun platt. Was soll das bedeuten? Ich gewinne Zeit zum Nachdenken, indem ich widerspreche: „Oh doch, ich sage nur Zucker und Psychotherapie!“ Keine Ahnung, was ich damit meine, doch Frau Plötzsch wird lauter: „Kein Wort weiter! Still! Da, Doktor Haselmaus kommt, besprich mit ihm deine Probleme!“
Der Schulpsychologe steht an der Treppe und weiß nicht so recht, ob er sich der Menge nähern soll, Frau Plötzsch winkt ihn heran.
Den Moment der allgemeinen Anspannung nutze ich aus. Ich sage das einzige Mögliche, das nach Streichung alles Unmöglichen übrig bleibt und demzufolge die Wahrheit sein muss, dabei schreite ich den Kreis der Schulkinder ab.
„Die sogenannte zuckerfreie Schule dient allein dem Zweck, alle Schüler zu unterzuckern. Wir sollen nervös werden und die Aufmerksamkeit verlieren, damit wir dem Schulpsychologen zugeführt werden, der mehr Fälle abrechnet und Medikamente verschreibt!“
Doktor Haselmaus wird blass, er stammelt: „Woher …? Nein, so ist das gar nicht, das stimmt nicht.“
Luis gestikuliert: Volltreffer!
Frau Plötzsch wendet sich direkt an die versammelte Menge. „Wollt ihr etwa alle dick werden?“, fragt sie.
„Wir wollen selbst bestimmen“, rufe ich hinterher.
„Aber das können wir doch gar nicht“, entgegnet ein Kind.
„Das ist es ja“, befinde ich. „Wir wollen in der Lage sein, selbst bestimmen zu können.“ Die Menge lässt ein skeptisches „Hm, hm“ ertönen.
Ich rufe: „Marike hat ihre PinkCake-Muffins verteilt, weil sie uns zeigen wollte, dass wir ihr wichtig sind. Wir wollen das Recht, unsere Werte mit Süßigkeiten zum Ausdruck zu bringen!“
Da ertönt ein „Jaa!“ durch das ganze Schulgebäude.
Doktor Haselmaus guckt hilflos zu Frau Plötzsch, die sagt nur scharf zu mir: „Sonst noch was?“
„Ja,“ sage ich und überlege in Supergeschwindigkeit, was ihr den größten Schlag versetzen würde, „wir wollen Noten“.
„Was?“, schreit sie entsetzt und guckt nun hilflos zu Doktor Haselmaus.
„Wir wollen gute Noten als Erfolg und schlechte für die Möglichkeit, besser zu werden.“
„Das geht nicht, das haben wir hier nicht zu entscheiden“, sagt sie nur.
Doktor Haselmaus sagt leise, fast flüsternd: „So, ich habe genug. Meine Dienste sind hier ja nicht mehr erwünscht. Ich höre als Schulpsychologe mit sofortiger Wirkung auf und nehme die Stelle im Schulamt an, die mir angetragen wurde, da kann ich mehr bewirken.“
Der Schultag verläuft ohne weitere Zwischenfälle, alle schienen etwas besser gelaunt als gewöhnlich, ich habe nur den Eindruck, unsere Lehrer betrachten uns etwas vorsichtiger als bisher.
Am Nachmittag sehe ich Luis aus der Schule herauskommen. „Jetzt könnte ich einen Kakao vertragen“, sagt er. „Mit einem Schuss Sahne.“
„Ich weiß, wo wir was kriegen“, sage ich, „dort drüben.“
„Im Hofcafé?“, fragt Luis erstaunt. Ich sehe ihn an, da weiß er, dass es stimmt.
Wir schlendern hinein, Marike begrüßt uns und stellt uns denen, die wir nicht kennen, mit stolzer Stimme vor: „Das sind Carolin und Luis. Carolin ist unsere Freundin, sie ist cool.“
Emmalisa bestätigt: „Carolin hat unsere Schule vom Psychologen befreit.“
Ich kann es selbst noch gar nicht fassen.
Habe ich das jetzt wirklich getan?
Ich glaube es ja nicht, dass ich das geschafft haben soll.
Doch.
Es ist wahr.
Ich habe die Macht der Clique außer Kraft gesetzt.
Ich bin Carolinwoman.
Bernd Zeller ist Karikaturist, Verfasser des Lehrbuchs „Komik und Satire“, Betreiber der Online-Satirezeitung zellerzeitung.de, ehrenamtlicher Macher der Jenaer Seniorenzeitung „Rentnerisches Akrützel“, vormaliger „Titanic“-Redakteur, zwischenzeitlicher Neugründer von „Pardon“ sowie Mitbegründer der Jenaer Studentenzeitung „Studentisches Akrützel“. Er zeichnete unter anderem für „Thüringer Allgemeine“, „Die Welt“, „Süddeutsche Zeitung“ und schrieb Gags für die Harald Schmidt Show. 2023 gewann er den Libertären Literaturpreis mit diesem Beitrag.
Die Stehtische neben uns füllen sich. Sie sind alle gekommen: Verleger großer Zeitungen, namhafte Reporter und ihre Vorzeigefrauen. Ich kenne niemanden und komme mir allein vor. Um die Wahrheit ist es schlecht bestellt, sagt mein Tischnachbar. Er nickt in sich hinein und lässt eine bedeutungsschwangere Pause. Er wartet auf meine Nachfrage, damit er sich erklären kann, aber ich tue ihm den Gefallen nicht sofort, nippe stattdessen an meinem Aperolspritz und starre auf die Plastikblume auf unserem Stehtisch. Die Leute verlieren das Vertrauen in den Journalismus, schiebt er hinterher. Und wir verlieren den Kontakt zu den Leuten. Ich schlürfe die letzten Reste der rötlichen Flüssigkeit zwischen den Eiswürfeln weg, sehe mich ungeduldig nach der Dame vom Catering um und erspähe sie zwischen zwei Stehtischen neben mir. Sie scheint den Durst in meinem Blick zu erkennen, schenkt mir ein Lächeln, das sagt: Ich eile, ich fliege, ich rette dich.
Die Leute wollen die Wahrheit nicht mehr hören, sage ich. Und wer könnte es ihnen verübeln? Die Wahrheit ist manchmal schwer zu ertragen. Ich greife nach dem verbliebenen Horsd’oeuvre auf meinem Teller und betrachte es zwischen Zeigefinger und Daumen. Die Leute wollen lieber Heldengeschichten, in denen die Wahrheit hübsch verpackt ist und nur häppchenweise präsentiert wird, sage ich.
Darf ich Sie was Persönliches fragen? Er nimmt mein Schweigen als Zeichen der Zustimmung. Warum sind Sie Journalist geworden? Sie sind ja noch jung, sagt er. Er – ein Mitfünfziger mit Hornbrille und vom Nikotin vergilbtem Schnauzer – sei ja schon ein alter Hase. Aber warum heuert ein junger Mann wie ich auf einem sinkenden Schiff an?
Anfangs wollte ich nur berichten, sage ich. Schreiben, was ist. Aufdecken und die Wahrheit ans Licht zerren. Debatten anstoßen. Doch nun reicht mir das nicht mehr, sage ich. Ich will etwas verändern. Es muss sich doch endlich mal was ändern, verdammt.
Er lächelt und in seinem väterlichen Blick schwingt etwas mit, das ich als Amüsiertheit über meine Naivität werte. Die Dame vom Catering balanciert ein Tablett mit Getränken zu unserem Stehtisch, fragt, ob die Herren noch was trinken wollen. Sie reicht ihm eine Cola und mir einen weiteren Aperolspritz. Ich zupfe am Ärmel meines schlecht sitzenden Anzugs, den ich mir eigens für diesen Abend geliehen habe. Ich komme mir verloren vor in diesem riesigen Atrium. In mir steigt mit einem Mal ein furchtbarer Fluchtinstinkt auf. Ich will weg, weit weg. Ich blicke nach oben durch die Glasdecke und kann den wolkenverhangenen Himmel erkennen, die gleichmäßig graue Betondecke über Berlin.
Mein Tischnachbar gibt sich als Reporter einer renommierten Zeitung zu erkennen und reicht mir die Hand. Ulrich, sagt er, aber meine Kollegen nennen mich alle Ulli.
Arkadi, sage ich und reiche ihm meine Hand. Er hat den festen Händedruck eines Unerschrockenen.
Ich kenne Ihren Namen, sagt er. Sind Sie nicht für den Preis heute Abend nominiert?
Ja, sage ich und blicke zu Boden.
Na, da können Sie doch stolz sein!, sagt er und klopft mir kumpelhaft auf die Schulter.
Mir ist diese Aufmerksamkeit peinlich, sage ich. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Ich bin es gewohnt, als Beobachter am Rand zu stehen und meine Figuren in den Mittelpunkt zu rücken, verstehen Sie?
Er nimmt einen tiefen Schluck Cola aus seinem Glas. Ich war auch mal so wie Sie, sagt er. Ich wollte etwas verändern, dort hingehen, wo andere nur mit vorgehaltener Waffe hingehen. Er berichtet von seiner Zeit als Kriegsberichterstatter im Irak. Von den Bildern, die ihn bis in den Schlaf verfolgen. Von erbitterten Feuergefechten, von Mörsereinschlägen in Minaretten, von klagenden Müttern, über die Leichname ihrer Söhne gebeugt. Er berichtet von dem Moment, als er merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Es habe mit seinem Schlaf begonnen, sagt er. Während er in den ersten Tagen kein Auge zugetan habe, musste er nach einigen Wochen schon von den Soldaten geweckt werden, um den Abzug nicht zu verpassen. Er sei nicht länger zusammengezuckt, wenn in der Ferne Schüsse zu hören waren. Er habe nichts mehr beim Anblick der Leichen empfunden, die am Straßenrand im Staub lagen. Dass etwas mit ihm nicht stimmte, habe er aber erst realisiert, als er eines Tages zusammen mit einem Fotographen in einem zerbombten Haus Zuflucht vor den Feuergefechten suchte. Per Funk hätten sie die Warnung erhalten, dass ein Selbstmordattentäter in ihre Richtung unterwegs sei. Es habe keinen Ausweg gegeben: Vor ihnen Islamisten, hinter ihnen die Artillerie, und da habe sich sein Kollege zu ihm umgedreht und gesagt: Nicht bewegen Ulli. Und bitte nicht in Panik geraten, wenn ich dir das jetzt sage, okay? Hinter dir ist eine Sprengfalle. Seine Stimme habe gezittert. Und dann habe der Kollege ihn gefragt: Was ist mit dir los? Du siehst total gelangweilt aus, Alter. Und es stimmte, er habe nichts empfunden. Nicht das Geringste. Da sei ihm klar geworden, dass das keine natürliche Reaktion war. Als er nach Deutschland zurückgekommen sei, habe er angefangen zu trinken, um die Bilder aus dem Kopf zu kriegen. Jetzt bin ich seit fünf Jahren trocken, sagt er und prostet mir mit Cola zu.
Es berührt mich, dass dieser Mann seine Geschichte mit mir teilt, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin ihm dankbar, als er das peinliche Schweigen zwischen uns bricht. Worum geht es in Ihrer Reportage?
Ich weiß nicht genau, wieso, aber er strahlt etwas Vertrauenswürdiges aus. Er scheint die Sorte Journalist zu sein, zu der ich immer aufgeblickt habe – ehrlich, aufrichtig und ein bisschen kaputt. Also beginne ich ihm vom Flüchtlingslager an der türkischen Grenze zu erzählen. Wobei Lager noch ein zu freundlicher Begriff für das ist, was sich mir in die Netzhaut gebrannt hat. Diese erbärmlichen Zustände: provisorische Zelte, schnell zusammengezimmerte Bretterverschläge, Kranke und Verwundete auf dem staubigen Boden. Menschliches Elend in seiner ganzen grotesken Farbenpracht. Diese Menschen waren zu Schachfiguren in einem perfiden geopolitischen Spiel geworden. Sie waren in einen Konflikt geraten, den sie nicht verschuldet hatten, und nun drohten sie zwischen den Großmächten zerrieben zu werden. Zurück in die Bombenhölle konnten sie nicht, weiterreisen in die Türkei durften sie nicht. Jeden Tag kamen mehr Menschen hinzu, wurden weitere Zelte aufgestellt, und alle fürchteten sich vor dem nahenden Winter. Sie setzten all ihre Hoffnungen in die Politiker aus Europa, die sich in ein paar Wochen mit dem türkischen, dem russischen und dem amerikanischen Präsidenten in Ankara treffen und diesem Alptraum ein Ende bereiten würden. Ich wusste es besser: Die Europäer wollten diese Menschen nicht.
Warum sind Sie überhaupt in die Türkei gereist? Ich meine, Sie hätten doch auch in Ihrem Büro in Deutschland bleiben können, sagt er.
Und zu einem Dasein am Schreibtisch verdammt sein?, frage ich. Mit einem kleinen Fenster, von dem aus man den Hamburger Hafen nur erahnen kann, mit einer traurigen Zimmerpflanze in der Ecke und einem Abreißkalender, der mich an die Ewigkeit der Langeweile erinnert? Ich winke ab: Nein danke. Er sieht mich mit diesem skeptischen Blick an, als spüre er, dass das nicht alles ist.
Im Nahen Osten braute sich damals der perfekte Sturm aus Krieg, Terror und Flucht zusammen. Und ich wollte das nicht nur aus der Distanz verfolgen, sage ich. Ich wollte ins Zentrum des Sturms und dort eine Geschichte finden, die das Unbegreifbare greifbar macht. Eine Geschichte für die Millionen gesättigter Zeitungsleser, die jede Katastrophe schon gekostet, jedes erschütternde Schicksal schon einmal gesehen hatten. Sie wollte ich erreichen, überzeugen, empören, damit sie Druck auf ihre Regierungen ausüben, um diesem Schandfleck ein Ende zu bereiten. Er nickt zufrieden.
Ich erzähle ihm von Aman und seiner Tochter Nayla, die ich im Lager kennenlernte. Aman und ich saßen oft vor seinem Zelt im Schatten einer Plane, tranken Tee und plauderten. Er war mit seiner Tochter vor dem Krieg geflohen, seine Frau war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Trotz des Leids schaffte es dieser Mann, mir jeden Tag ein Lächeln zu schenken. Als er mir seine Geschichte erzählte, klammerte ich mich am Teeglas fest und sagte nichts. Vor dem Zelt spielte die kleine Nayla mit ein paar Kindern im Staub, als beträfe sie das Elend des Lagers nicht, alles gehe ihr Recht auf eine ungestörte Kindheit vor. Ich kam mir schäbig vor mit meinen nichtigen Sorgen: Wie lange würden meine Spesen noch reichen? Würde ich rechtzeitig eine Geschichte finden?
Aber Sie haben sie gefunden, Ihre Geschichte, sagt Ulli.
Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, unverrichteter Dinge wieder abzureisen, sage ich. Dann erzählte mir Aman eines Morgens völlig aufgelöst, dass seine Tochter verschwunden sei. Wir haben den ganzen Tag damit verbracht, durchs Lager zu laufen und nach ihr zu suchen. Vergeblich. Ich setzte mir in den Kopf, Naylas Verschwinden zu meiner Geschichte zu machen. Ich arbeitete die Nächte durch und schlief kaum noch. Nach tagelanger Recherche und zahllosen Telefonaten dann endlich eine Spur: Nayla wurde über die Grenze in die Türkei verschleppt und wurde dort vermutlich in einer Textilfabrik als Arbeitssklavin gehalten. Mein Chefredakteur sagte mürrisch zu, mein Spesenkonto für zwei weitere Wochen aufzufüllen. Aber das wird besser eine Knallergeschichte, sagte er. Was richtig Großes, Pulitzerpreis oder wenigstens Deutscher Reportagepreis. Sonst sind wir beide dran, Arkadi. Dann legte er auf. Ich weiß noch, wie ich da eine Weile in der Hotelrezeption stand, mit dem Hörer in der Hand und mir der kalte Schweiß auf der Stirn stand.
Er lacht auf. Ja, diese Telefonate kenne ich gut, sagt er. Haben Sie die Kleine gefunden?
Am nächsten Tag reiste ich in die Türkei. Dort verschaffte ich mir, getarnt als westlicher Investor, Zutritt zu all den Kellergewölben, in denen Flüchtlingskinder in Zwölfstundenschichten T-Shirts und Handtaschenimitate für den Export nach Westeuropa nähen mussten. Als ich schon aufgeben wollte, fand ich sie. Sie war noch viel abgemergelter, als ich sie in Erinnerung hatte, doch es bestand kein Zweifel, es war Nayla. Sie saß dort verschüchtert und müde über ein Stück Stoff gebeugt, die Hände voller Schwielen. Aus dem Radio des bulligen Aufsehers ertönte „All along the watch tower“. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil es die Dylan-Version war und ich bis dahin immer annahm, der Song sei von Jimmy Hendrix. Bei ihrem Anblick kamen mir fast die Tränen, weil ich wusste, dass ihre Kindheit vorüber war, dass etwas in ihr gestorben war. Ich wollte ihr um den Hals fallen, konnte mich aber im letzten Moment beherrschen. Meine Tarnung würde auffliegen und der Gorilla, der keinen Meter von meiner Seite wich, würde mich auf der Stelle lynchen. Er schien meine kurze Verunsicherung zu wittern, wie Wölfe die Angst ihrer Beute wittern. Ich sah ihm direkt in die Augen, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass das wilden Tieren Respekt einflößt. Ich liebe diesen Song, sagte ich auf Englisch. Amerikanische Musik gut, sagte er und griff nach dem Stofffetzen, an dem Nayla arbeitete. Ich schrak zusammen. Italienische T-Shirts besser. Gucci. Dolce & Gabana. Alles, was du willst, sagte er. In meinem Kopf irrlichterten die immer gleichen Fragen umher: Was zur Hölle mache ich hier eigentlich? Wem will ich etwas beweisen? Ist mir das alles über den Kopf gewachsen?
Sie kennen ja den Satz von Henri Nannen, sagt Ulli und erhebt oberlehrerhaft den Zeigefinger. Ein guter Journalist sollte ...
... sich nie mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Ja, ja, ich weiß. Nannens mahnende Stimme geisterte mir auch damals oft durch den Kopf, quälte mich besonders in den Abendstunden und ich benötigte immer mehr Schnaps, um ihn zu vertreiben. Aber ich war nun schon viel zu tief in die Geschichte verstrickt und es gab kein Zurück mehr.
Er nickt verständnisvoll. Wie ging es dann weiter?, fragt er.
Zurück im Lager erzählte ich Aman von seiner Tochter und von meinem Plan zu ihrer Befreiung. Ich würde meine Kontakte zur türkischen Polizei spielen lassen, um den Laden hochgehen zu lassen. Alle Bösewichte würden verhaftet und Aman bekäme seine Tochter unbeschadet zurück. Das Feuer kam mir zuvor. Ich las ein paar Tage später davon in der „Hürriyet“. Diese Schweine hatten die Behörden geschmiert, damit sie beim Brandschutz alle Augen zudrückten. Die Gucci-Imitate brannten wie Zunder. Naylas Überreste wurden in der Türkei beigesetzt. Ich bezahlte Aman das Flugticket, begleitete ihn jedoch selbst nicht. Aus Schamgefühl, denn ich fühlte mich mitschuldig an ihrem Tod. Ohne mich von ihm zu verabschieden, flog ich zurück nach Deutschland und fiel in ein tiefes Loch.
Das tut mir sehr leid, sagt er. Das muss schrecklich für Sie gewesen sein. Er legt seine Hand auf meine Schulter und ich fühle mich auf eine seltsame Art verbunden mit diesem Mann.
Ich brauchte Wochen, bis ich zu der Erkenntnis gelangte, dass ich die Geschichte aufschreiben musste, dass ich sie mit der Welt teilen musste, dass ich es Nayla und Aman schuldig war. Ich spannte den Bogen vom tragischen Schicksal der beiden zum politischen Versagen. Hätten sich die Politiker schneller auf die Verteilung der Flüchtlinge geeinigt, hätten sie ihre egoistischen Interessen beiseitegeschoben, würde Nayla heute vermutlich noch leben. Mein Chefredakteur war begeistert. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte, der Reportagepreis ist dir sicher, Arkadi. Ich bekam ein eigenes Büro mit Fensterfront statt Guckloch und Platz genug für einen kleinen botanischen Garten.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir hier nicht so recht hineinpassen, sagt Ulli. Zunächst glaube ich, er spielt auf meinen schlechtsitzenden Anzug an. Dann deutet er um sich: das Atrium, die gut gekleideten Hauptstadtjournalisten, die Verleger und ihre Vorzeigefrauen, die Häppchen und Cocktailgläser. Die meisten sind doch nur hier, um sich selbst zu vergewissern, dass sie noch wichtig sind, sagt er. Ihnen geht es schon lange nicht mehr um die Wahrheit. Aber Sie und ich, wir sind anders, sagt er.
Die Dame vom Catering räumt unseren Stehtisch ab und bittet uns für die Preisverleihung in den großen Saal. Ulli hält mir die Tür auf. Auf dem Weg zu unseren Sitzplätzen sagt er zu mir, dass er sicher sei, ich würde den Preis gewinnen. Er habe die anderen Geschichten gelesen: die „Süddeutsche“ mit ihrer Reportage über einen geläuterten Trickbetrüger, die „Zeit“ mit ihrem Stück über einen alkoholkranken Drogenfahnder und den Wirtschaftskrimi im „Handelsblatt“ über Steueroasen auf den Cayman Islands. Ganz verkopftes Zeug, sagt er. Wirklich. Hab‘s versucht zu lesen, hab‘s aber weggelegt. Einfach zu wenig Gefühl, zu wenig Story. Das will heute keiner mehr lesen, sagt er. Ich bin ihm dankbar für seine aufbauenden Worte, und für einen Augenblick vergesse ich meine Nervosität.
Wir nehmen in der zweiten Reihe Platz. Scheinwerferlicht fällt auf die Bühne. Der Moderator betritt im anthrazitfarbenen Zweiteiler die Bühne, in der rechten Hand ein Mikrophon. Mit der linken Hand streicht er sich übers Hosenbein, dort, wo man vielleicht eine Bügelfalte vermuten würde, aber keine zu sehen ist. Natürlich nicht, denke ich, so einer hat keine Bügelfalten. Der Moderator begrüßt die Anwesenden und hält eine Rede über die Lage des Journalismus. Er spricht von der Konkurrenz aus dem Netz, von wegbrechenden Werbeanzeigen, vom verlorenen Vertrauen in die Zeitungen, vom Aufblühen von Verschwörungstheorien, von Lügenpresseschreiern auf den Straßen, yada yada yada. Ulli dreht sich zu mir um und wirft mir einen Sag-ich-doch-Blick zu. Ich spüre, wie sich die Mienen im Saal verfinstern, wie Getuschel einsetzt, wie nervöse Lacher die Stille zerreißen. Sie scheinen zu sagen: Dafür sind wir doch nicht hier, oder? Nicht heute Abend. Heute Abend wollen wir uns selbst feiern, für einen Augenblick die düstere Realität vergessen und uns ganz der Illusion hingeben, dass alles besser werden kann, werden muss. Nach seinem kurzen Ausflug in stürmische Gewässer reißt der Moderator das Ruder gekonnt herum und bekräftigt, dass gerade in diesen Zeiten unsere Branche wichtiger sei denn je. Dass wir unser Handwerk verstünden und „denen da im Netz“ zeigen könnten, was echter Journalismus sei. Tiefgründige Recherche an entlegenen Orten. Packende Geschichten aus Krisengebieten. Dann kommt er endlich zum Anlass des Abends: Reportage des Jahres. Er stellt nacheinander alle Nominierten vor und spart bei seiner Laudatio nicht mit Adjektiven. Hautnah. Hochbrisant. Herzzerreißend. Ich merke, wie die Nervosität wieder in mir aufsteigt, kalter Schweiß sammelt sich an meinen Handinnenseiten. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass mir dieser Preis im Grunde egal ist, dass es mir um die Geschichte geht, darum, den Unsichtbaren eine Stimme zu verleihen. Ich wische mir die verschwitzten Hände an der Anzughose ab und murmele meine Rede vor mich hin. Durch das Rauschen in meinen Ohren höre ich meinen Namen, dann aufbrausender Applaus und erwartungsvolle Blicke, die sich auf mich richten. Ich erhebe mich, das heißt, mein Körper erhebt sich und bewegt sich roboterhaft in Richtung Bühne, und ich habe das Gefühl, ihm dabei zuzusehen, über ihm zu schweben. Dann stehe ich auf der Bühne. Der Moderator drückt mir die gläserne Skulptur in die Hand. Glückwunsch Arkadi, flüstert er mir ins Ohr und deutet aufs Mikrophon. Ich blicke die Menschen im Publikum an, blicke in ihre satten Gesichter, die vor mir im Scheinwerferlicht zu einer monotonen Masse verschwimmen. Ich warte auf ein erhebendes Gefühl, das sich doch nun einstellen müsste, aber ich spüre nichts. Ich halte das Mikrophon zu nah an meinen Mund und das Geräusch der Rückkopplung hallt durch den Saal.
Ich verdiene diesen Preis nicht mehr als meine Kollegen, sage ich. Sie haben alle hervorragende Arbeit geleistet. Wir alle sind der Wahrheit verpflichtet, sage ich und halte kurz inne. Und die Wahrheit ist, dass etwas auf der Welt ganz und gar nicht stimmt. Die Wahrheit ist, dass Menschen anderen Menschen grausame Dinge antun. Und es ist unsere Aufgabe, diese Taten aufzudecken, sie ans Licht zu zerren, auch wenn wir uns dabei in Gefahr begeben müssen, sage ich. Ich sehe mir selbst beim Reden zu und habe nicht das Gefühl, dass ich es bin, der die auswendig gelernten Sätze spricht. Ich möchte diesen Preis Nayla widmen, sage ich. Ihr Tod steht sinnbildlich für den Tod Unzähliger, deren Geschichten unerzählt bleiben. Ich halte die gläserne Skulptur in die Höhe, und warmer Applaus kommt auf. Ich versuche mir Nayla vorzustellen, aber es gelingt mir nicht. Ich bin sicher, sie wäre in diesem Moment stolz auf mich gewesen, wenn es sie denn jemals gegeben hätte.
André Jasch wurde in Brandenburg an der Havel geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin und Neurowissenschaften in Osnabrück. Er absolvierte 2017 eine einjährige Autorenausbildung im „Haus des Schreibens“ in Berlin, geleitet von Julia Powalla, das in der Anthologie „Ging mir nie besser“ mündete. Außerdem nahm er an einem von Kathrin Lange geleiteten Schreibseminar zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls teil, das zur Anthologie „Der geheilte Himmel“ führte. Heute hat er seinen Lebens- und Schaffensmittelpunkt wieder in Berlin. Dort verdient sich der gebürtige Havelländer seine Brötchen als Redakteur. Wenn er nicht gerade in den Untiefen der Finanzwelt recherchiert, dann schreibt er an seinem ersten Roman. Seine Neugier gilt dabei jungen Pianisten, alten Lektoren und dem Braunkohleabbau – ein Gesellschaftsroman ist im Entstehen. Der folgende Beitrag landete beim Libertären Literaturpreis 2022 unter den ersten drei Plätzen und wird prämiert.
„HALTE AUSSCHAU.“
Er hörte das Knacken der Äste unter den Füßen, während er sich langsam durch den Wald bewegte. Der Boden war weich, das Gelände unwegsam, Sträucher und Ranken erschwerten das Vorankommen. Es fiel ihm schwer, sich zurechtzufinden, alles sah gleich aus, die Bäume, die Sträucher. Er hielt inne.
„Was war das für ein Geräusch?“, fragte er sich. „Wahrscheinlich nur ein Tier, möglicherweise ein Vogel.“ Mit Tieren kannte er sich nicht aus, er war ja kein Forscher. Die Sensoren seines Helmes erfassten die Umgebung. Die Analyseeinheit glich die Daten mit einer Datenbank ab und projizierte die Namen der Pflanzen in seinem Blickfeld direkt ins Visier. Die Audioanalyse ergab eine Liste diverser Vögel.
„SUCH ZWISCHEN DEN BÄUMEN.“
Es dämmerte, ohne Nachtsicht wäre er definitiv aufgeschmissen, ein Fehltritt könnte die Mission gefährden. Die Kombination aus Nachtsicht und Infrarotsensoren tauchte die Umgebung in einen psychedelischen Farbmix. Er war nur ein Späher, ein kleines Zahnrad, Teil einer großen Maschinerie, eines großen Ganzen. Er war unbedeutend, es ging allein um die Sache, um die Mission.
„BLEIB BEI DER GRUPPE.“
Er war nicht allein, er war nie allein, es war nicht üblich, allein zu sein. Rechts von ihm durchstreiften andere Späher den Wald. Hinter ihnen kamen die Jäger und dahinter die Sammler. Er kannte die Positionen jedes einzelnen Mitglieds des Trupps, hatte ein genaues Bild der Gruppe im Kopf. Er sah mit den Augen von vielen. Neuronale Singularität.
„KONZENTRIERE DICH AUF DIE MISSION.“
Er spürte die Anspannung der anderen. Bisher war alles ruhig, aber sie waren nicht zum Spaß hier draußen. Niemand verließ freiwillig die schützenden Mauern, um in den Wald zu gehen. Es war nass und kalt hier draußen, und alles sah gleich aus. Sie waren auf der Suche nach Aussätzigen.
Er spürte ein leichtes Pochen im Hinterkopf. Manchmal machte die neuronale Schnittstelle Probleme, es war nicht gerade das neueste Modell, und bei der Verarbeitung großer Datenmengen konnte es schon mal zu Kopfschmerzen kommen.
„FEINDKONTAKT.“
Da war etwas. Ein anderer Späher hatte jemanden entdeckt, die Aufmerksamkeit des Trupps konzentrierte sich auf das Zielobjekt. Plötzlich ging es ganz schnell. Schüsse fielen, Lichtblitze erhellten die Bäume und das Unterholz. Immer mehr potentielle Ziele schossen ihm ins Bewusstsein, da waren mindestens ein Dutzend Fremde im Wald. Er lief in Richtung des Gefechts. Er hoffte vor den Jägern vor Ort zu sein, um selbst einen von diesen Mistkerlen erwischen zu können. Er hatte zwar nur eine Betäubungswaffe, aber der Auftrag lautete ja auch Assimilierung und nicht Vernichtung.
„Wir sind viel zu gut zu euch“, dachte er sich. Wenn es nach ihm ginge, würde einfach kurzer Prozess gemacht, diese Wilden sollten nicht das Recht haben, Teil der Gemeinschaft zu werden. Aber er hatte seine Befehle, und es war ihm nicht gestattet, die Anweisungen der Kleriker in Frage zu stellen. Er schämte sich für seinen kleinen Wutausbruch und hoffte, dass die Gruppe seine verbotenen Gedanken im Eifer des Gefechts überhört hatte.
„KONZENTRIERE DICH AUF DIE MISSION.“
Der neuronalen Aufsichtseinheit war sein Abschweifen nicht entgangen, er konnte sich keine verbotenen Gedanken leisten, das würde nur die Mission und damit auch die anderen gefährden. Er hatte Befehle und musste diese ausüben. Er widmete sich wieder voll und ganz der Gruppe. So viele Gefühle und Gedanken prasselten auf ihn ein. Er spürte die Gruppe, spürte das Adrenalin jedes Einzelnen, spürte ein Gefühl der Überlegenheit.
Er stolperte über eine Wurzel, fing sich aber wieder. Sein Puls war hoch, er rang nach Atem. Er war fast da.
„ZIELORT FAST ERREICHT.“
Vor ihm ragte ein Fels empor, zwei andere Späher und ein Jäger befanden sich wenige Meter entfernt dahinter. Sich an moosbewachsenen Spalten hochziehend erklomm er den Felsen und erblickte nun endlich mit den eigenen Augen das, was sich schon seit einigen Minuten in seinem Kopf abgezeichnet hatte. Mindestens fünf Wilde lagen betäubt am Boden, der Jäger bewegte sich langsam eine Böschung empor, seine Waffe im Anschlag. Vermutlich versteckte sich jemand zwischen den Sträuchern auf der Anhöhe.
Da war etwas. Jemand näherte sich dem Jäger, jemand, der nicht Teil der Gruppe war. Die Sensoren des Nachtsichtgeräts erfassten den Fremden, der Trupp wusste Bescheid, der Jäger war gewarnt.
Dann ging alles ganz schnell: Der Jäger wirbelte herum. Noch in der Drehung löste sich ein Schuss aus seinem Gewehr, der den Wilden sofort paralysierte.
„Was wäre wohl ohne mich passiert?“, dachte er bei sich. Plötzlich sah er einen Schatten im Augenwinkel.
„GEFAHR!“
Ein dumpfer Schlag traf ihn am Hinterkopf. Er versank in Dunkelheit.
Als er wieder zu sich kam, schien die Sonne direkt in sein Gesicht. Er blinzelte und hielt sich seine Hand schützend vor die Augen.
„Wo bin ich?“, fragte er sich. „Was ist passiert?“ Er sah sich um. Er befand sich in einem kleinen Raum, mit einem einzelnen Fenster, durch das gleißendes Sonnenlicht hereinfiel. Die Matte, auf der er geschlafen hatte, war feucht und roch muffig. Er hatte stark geschwitzt, seine Kleidung klebte am Körper. Die Wände waren rissig und mit seltsamen Bildern verziert, noch nie hatte er Vergleichbares gesehen. Er musste sich weiterhin im Wald befinden, oder sonstwo außerhalb der Mauern.
Beim Aufrichten fuhr ihm ein stechender Schmerz in den Hinterkopf, sofort sackte er zurück auf die Matte. Seine Hände tasteten sich langsam an den Ohren vorbei zu der vor Schmerz pochenden Stelle. Jemand hatte ihm einen Verband aus alten Stofffetzen umgewickelt. Sein Hinterkopf fühlte sich warm und feucht an. Blut. Plötzlich wurde er sich des vollen Ausmaßes seiner Situation bewusst: die Schnittstelle. Irgendetwas stimmte nicht.
Er konnte die Gruppe nicht orten, da war niemand, ein seltsames Gefühl. Die Schnittstelle war verschwunden, nur drei kleine Einstiche unter dem provisorischen Verband zeugten noch von ihrer Existenz. Die Wunde war bereits am verheilen, er schien keine neuronalen Schäden zu haben. Sein Helm lag neben dem Bett am Boden, er war eingedellt, die Funkeinheit war eindeutig zerstört. Jemand hatte die Sensoren und die Analyseeinheit ausgebaut, auch die Batterie war geplündert worden.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte er. „Wo seid ihr?!“
Auf so eine Situation war er nicht vorbereitet. Er war abgekapselt von den anderen, spürte weder die Stadt noch andere Menschen, er war völlig orientierungslos. Langsam machte sich Angst in ihm breit. Er war allein. Das erste Mal in seinem Leben.
Mit Mühe erhob er sich von der Matte, er fühlte sich erschöpft, aber er wusste, dass er nicht einfach hier bleiben konnte. Er humpelte zum Fenster und schaute nach draußen. Sein Blick fiel auf zwei halb verfallene Gebäude und ein paar alte Mauern, die von Ranken und Moos überwachsen waren. Ruinen aus vergangenen Tagen. Die vergleichsweise lichte Stelle lag mitten im Wald. Es hatte geregnet. Der Weg vor dem Haus stand teilweise unter Wasser, es handelte sich allerdings nur um flache Pfützen. Es lag ein frischer Geruch in der Luft. Warme Sonnenstrahlen ließen Nebelschwaden aus dem Wald emporsteigen.
Der Wald machte ihm Angst.
Ein grünes Dickicht, Tausende von Bäumen und Sträuchern. Ohne Orientierung würde er es nie wieder zurück zu den anderen schaffen. Er taumelte zurück vom Fenster, die Kopfschmerzen waren durch das Aufstehen nur noch schlimmer geworden. Plötzlich wurde er sich der Stille bewusst. Durch den Defekt der Schnittstelle war auch die Aufsichtseinheit verstummt. Die Stimme in seinem Kopf war verschwunden. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit, eine solche Art von Stille hatte er noch nie erlebt.
Genaugenommen hatte er noch nie wirkliche Stille erlebt, selbst in seiner Schlafzelle, selbst bei der Abwesenheit akustischer Signale, hatte er stets die Gedanken und Gefühle von anderen als innere Stimme gehört. Oder hatte er sie gefühlt? Er war jedenfalls stets Teil einer Ganzheit gewesen, sein ganzes Leben lang. Dieses Prinzip nannte sich „neuronale Singularität“, die Vereinigung der Gedankenströme aller zu einem großen Ganzen. Zu einer Gemeinschaft, einem Kollektiv. So konnte genau berechnet werden, wer für welche Aufgabe am geeignetsten war, damit derjenige seinen Teil zum Wohle der Gesellschaft beitragen könne. Die Aufsichtseinheit war sozusagen das Sprachrohr des Zentralrechners, der alle Handlungen koordinierte.
„Immerhin bin ich diese nervigen Befehle los“, dachte er bei sich. Die Befehle hatten in ihm schon immer ein mulmiges Gefühl ausgelöst, selbst nach all den Jahren hatte er sich nicht daran gewöhnen können. Ganz so still wie zuvor gedacht war es gar nicht, durch das offene Fenster konnte man ein leises Rascheln der Blätter im Wind hören. In der Ferne war das Kreischen von Vögeln zu vernehmen, außerdem ein paar andere Tiergeräusche, die er nicht zuordnen konnte. Er fragte sich, ob es in dieser Gegend gefährliche Tiere gab, eines der Geräusche war ihm unangenehm aufgefallen. Er hatte keine andere Wahl, als den Wald zu durchqueren, er musste herausfinden, wie er zurück in die Stadt finden würde. Er wusste nicht einmal, wie weit entfernt er von ihren schützenden Mauern war.
Sein Magen knurrte. Er hoffte in der Nähe etwas Essbares zu finden, viel wichtiger war jedoch Wasser. Er hatte einen trockenen Mund und einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Hunger und Durst wurden ihm zum ersten Mal völlig bewusst. Was, wenn er nichts finden würde?
„Werde ich krank, wenn ich aus einer der Pfützen trinke?“, fragte er sich. „Welche Pflanzen sind essbar? Werde ich verhungern?“ Seine Situation war beunruhigend, er war auf so etwas nicht vorbereitet, keiner hatte ihm beigebracht, wie man alleine in der Wildnis überlebt. Angst manifestierte sich in seinem Kopf, die Angst, zu sterben. Er war wie gelähmt. Tausende Gedanken durchzuckten seinen Kopf. Ein wirres Durcheinander. „Wie soll ich vorgehen? Sucht jemand nach mir? Was, wenn ich nichts zu essen finde? Erinnert sich überhaupt jemand an mich? Wer hat mich niedergeschlagen? Wie bin ich hierhergekommen? Ich muss hier weg.“
Er durfte nicht panisch werden, das wusste er. Er musste sich beruhigen, sich ablenken, sich ein Ziel setzen. „Ich muss mich hier umschauen.“ In Gedanken gab er sich eine Aufgabe. Alles andere war zweitrangig, Orientierung war oberstes Gebot. Seine Kopfschmerzen waren nicht wirklich besser geworden, er fühlte sich schlapp, Rücken und Beine taten ihm weh, aber er musste die Zähne zusammenbeißen, den Schmerz unterdrücken. Er bewegte sich langsam und schwerfällig zur Tür und öffnete sie.
Zu seinen Füßen stand eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, irgendjemand musste sie vor kurzem hierhergestellt haben. „Ist das Wasser?“, fragte er sich. Er öffnete die Flasche und roch daran. Es roch neutral. Er nahm einen Schluck. Es handelte sich um Wasser. Gierig zog er an der Flasche und leerte sie fast in einem Zug. „Irgendjemand hat mich hierhergebracht“, schoss es ihm durch den Kopf. „Aber warum?“
Hinter der Tür war ein Gang, an dessen Ende eine Treppe nach unten führte. An den Seiten des Ganges befanden sich weitere Räume, es schien, als ob hier früher einmal jemand gelebt hatte. An der Wand hing ein Bild. Darauf waren ein Mann, eine Frau und zwei Kinder abgebildet, sie lächelten. Im unteren Teil des Bildes stand: „Für William“. Hatten diese Menschen hier früher gewohnt?
„Warum brauchen vier Menschen so viel Platz?“, fragte er sich. „Hier ist sicher Raum für mindestens 50 Schlafzellen.“ Die Vergangenheit war seltsam in seinen Augen. Er hatte gelernt, dass die Menschen der Vergangenheit verschwenderisch waren, aber ein solches Ausmaß hatte er nicht erwartet. Er stieg die Treppe hinab in einen großen Raum mit einer Glasfront. In einem Eck standen gepolsterte Sitzmöbel, deren beste Tage schon lange verstrichen waren. Dort saß eine Frau.
„Na? Von den Toten auferstanden?“, fragte sie schnippisch.
„Wer bist du?“, erwiderte er erschrocken. „Hast du mich niedergeschlagen?“
„Sieh es als einen Gefallen“, sagte sie lächelnd. „Du lebst und bist dieses unsägliche Ding los.“
„Du hast die Schnittstelle zerstört!“, schrie er wütend. „Wie soll ich zurück zur Gruppe finden? Zurück zur Stadt?“ Mit geballten Fäusten ging er auf die Frau zu. Sie zückte eine Pistole.
Er hob die Hände und ging zwei Schritte zurück. Der Lauf der Waffe zeigte direkt auf ihn. „Ganz ruhig. Komm ja nicht auf dumme Ideen.“ Ihre Worte waren klar und bestimmend, und er wusste genau, dass sie, wenn nötig, auf ihn schießen würde. Mit ruhiger, verständnisvoller Stimme sagte sie: „Du bist verwirrt. Du hast Angst. Du fühlst dich allein.“ Sie schaute ihm tief in die Augen. Sie hatte grüne Augen und langes, rotes Haar, er schätzte ihr Alter auf ungefähr 30 Jahre.
„Mir ging es einst genauso.“ Sie flüsterte fast. „Auch ich wurde aus der Gruppe gerissen, war wütend, enttäuscht, verzweifelt...“ Sie stockte. „...dennoch war es das Beste, was mir je passieren konnte: Ich bekam die Chance auf ein neues Leben.“ Während sie sprach, hob sie ihre Haare an und zeigte ihm die Narbe einer entfernten Neuroschnittstelle.
„Ich möchte aber kein neues Leben“, erwiderte er mit lauter Stimme. „Ich möchte nicht im Wald leben, auf einer modrigen Matratze schlafen und mich von Ratten und Wurzeln ernähren.“
„Ich war damals froh, die Stimmen los zu sein, die Befehle, die unzähligen Augen, die einen auf Schritt und Tritt beobachteten, nichts davon vermisse ich“, sprach die Frau, während sie ihn mit ihrem Blick durchbohrte. Die Pistole war weiterhin auf ihn gerichtet. Irgendetwas in seinem Inneren wollte ihr zustimmen, trotzig nuschelte er vor sich hin: „Ich will zu den anderen. Ich will in meine Schlafzelle, und ich habe Hunger.“
„Schade. Ich dachte, ich hätte dir einen Gefallen getan, aber allem Anschein nach ziehst du es vor, ein Sklave zu sein.“ Sie wirkte traurig. „Du schienst mir wie ein geeigneter Kandidat, ich habe mich wohl getäuscht. Manche Menschen wollen einfach nicht frei sein.“ Langsam erhob sie sich von ihrem Sessel. „Die Stadt befindet sich östlich von hier in Richtung Sonnenaufgang.“
Er war völlig perplex. Was hatte all das zu bedeuten? Wieso hatte sie ihn einen Sklaven genannt? Und wo wollte sie hin? Die Frau hatte ihm den Rücken zugekehrt und bewegte sich schnurstracks in Richtung Tür.
„Was soll das? Wo willst du hin? Wer bist du überhaupt?“, rief er ihr nach.
Sie drehte sich ein letztes Mal um. „Ich heiße Lia. Wenn du dein altes Leben zurück willst, kann ich dir nicht helfen.“ Sie verschwand durch die Tür.
Er eilte ihr nach, aber als er nach draußen stolperte, war sie spurlos verschwunden. „Was sollte das?“ Er hatte so viele Fragen, er war völlig verwirrt. Er fühlte sich im Stich gelassen. „Was soll das alles?!“, brüllte er wütend in den Wald hinaus. Seine laute Stimme scheuchte einen Schwarm Vögel auf. „Wieso tust du mir das an?!“ Keiner antwortete.
Da stand er nun. Irgendwo mitten im Nirgendwo, umgeben von Bäumen, die sich alle unglaublich ähnlich waren. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, er musste blinzeln. „Richtung Sonnenaufgang, hat sie gesagt.“ Er überlegte. „Das muss links von mir sein...“ Besonders weit konnte er links von sich nicht schauen, das Gelände stieg langsam an und wurde immer steiler. Der kleine bewaldete Berg ragte zweihundert, vielleicht auch dreihundert Meter aus der Fläche empor. „Ich muss da hochsteigen, von dort oben kann ich sicher die Stadt sehen“, dachte er sich.
Er ging zurück ins Haus, um dort nach Essen und nützlichem Werkzeug zu suchen. Möglicherweise hatte Lia hier etwas Proviant gelagert. Wenn er schon keine Hilfe von ihr erwarten konnte, könnte er sich wenigstens an ihren Sachen bedienen. Eine Tür führte in einen Keller, es war stockdunkel dort unten. Er vermisste sein Nachtsichtgerät. „Wo sind eigentlich meine Sachen?“, fragte er sich. „Hat Lia sie?“
Er stieg hinab, durch die offene Tür kam zumindest etwas Licht herein. Staubkörner wirbelten durch die Luft und glänzten im hereinfallenden Tageslicht. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Das war alles so neu für ihn. In der Stadt war es nie wirklich dunkel, und in der Außenwelt hatte er ja normalerweise sein Nachtsichtgerät und die Orientierung durch die Gruppe. Er fühlte sich sehr unwohl. In seinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. Unten angekommen, sah er die schemenhaften Umrisse einiger Regale. Die Fächer waren größtenteils leer. Er tastete sich langsam heran, bis er mit seinen Händen auf einem der Regalbretter ein paar Dosen ausmachen konnte. Er griff sich seine Beute und ging wieder nach oben.
Als sich seine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er sich die Dosen genauer an. Bohnen und eingekochtes Fleisch, er hatte einen guten Fang gemacht. Er öffnete beide Dosen. Zum Glück war hierfür kein Werkzeug nötig. Er griff hinein und aß gierig mit den Händen. Er wischte seine verschmierten Finger an seiner Hose ab und steckte ein Messer ein, das auf einem der Schränke neben den Polstermöbeln gelegen hatte.
Er verließ das Haus und machte sich auf in Richtung des kleines Berges. Im Wald gab es einen überwucherten Trampelpfad, der in die richtige Richtung zu führen schien. Es fiel ihm schwer, sich zu orientieren, er sah zwar Unterschiede zwischen einzelnen Bäumen, aber insgesamt gab es zu wenige markante Punkte entlang seines Weges. Wenn er mit der Gruppe unterwegs war, konnte er sich immer an den anderen und an den vorgegebenen Zielkoordinaten orientieren, aber so komplett ohne technische Hilfsmittel hätte er sich ohne den Weg schon längst verirrt. Es war relativ still. Die Blätter rauschten im Wind, und aus den Wipfeln der Bäume vernahm man hier und da Vogelgezwitscher und sonstige Tierschreie.
Irgendwie hatte der Wald etwas Beruhigendes an sich. Die Bäume strahlten eine Ruhe aus, ein Gefühl, dass er so noch nie gespürt hatte. Es war ungewohnt ohne die Stimmen in seinem Kopf, ohne die Gruppe neben sich zu spüren. Was hatte Lia damit gemeint, als sie ihn einen Sklaven genannt hatte? „Ich bin kein Sklave, ich habe nur meinen Teil zum Großen Ganzen beigetragen“, dachte er. Das Große Ganze. Er dachte darüber nach, was das eigentlich war. Es war ihm immer gutgegangen, er hatte eine Schlafzelle, Nahrung und genug Freizeit, in der er sich gerne Filme über die Vergangenheit in den Kopf projizierte. Früher musste es schrecklich gewesen sein. Der Himmel in den Filmen war immer grau, das Wasser schwarz, Bäume und andere Pflanzen waren verkümmert oder tot. Lodernde Waldbrände erhellten nachts den Himmel. Die Menschen mussten mit Atemmasken herumlaufen, weil die Luft voller giftiger Stoffe war, die von den Menschen selbst erzeugt worden waren. Durch unendliche Gier und Verschwendung war die Erde fast zugrunde gegangen. Erst die großen Computer hatten den Menschen gezeigt, wie sie ein Leben ohne Verschmutzung führen konnten, die Katastrophe wurde abgewendet.
„Wir verdanken dem Zentralrechner unser Leben, da ist es doch selbstverständlich, dass man ihm dient.“
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, da der Weg plötzlich steil anstieg. Bald war der Pfad völlig verschwunden, und er war gezwungen, von dicken Wurzeln überwachsene Felsen hinaufzuklettern. Die Felsen waren stellenweise mit Moos bewachsen und glitschig. Er musste sich konzentrieren, um nicht abzurutschen. Die Felswand wurde immer steiler, aber er sah, dass der Wald sich vor ihm lichtete. Anscheinend war es nicht mehr weit bis zum Gipfel. Mittlerweile musste er klettern, zum Glück gab es genug Felsvorsprünge, an denen er sich hochziehen konnte. Er musste aufpassen, nicht abzurutschen, seine Gedanken von vorher waren wie verflogen. Sein Kopf war womöglich noch nie so frei von Gedanken gewesen. Er war einfach nur da, hier an der Felswand, voll konzentriert. Kein störender Gedanke weit und breit. Schwer atmend, die Kleidung nassgeschwitzt, zog er sich an einem besonders großen Felsbrocken empor. Er war ganz oben angekommen.
Erschöpft legte er sich auf den Boden und schloss die Augen. Die Verschnaufpause hatte er nach dem anstrengenden Aufstieg nötig. Er atmete in schnellen, kurzen Zügen, sein Herz schlug schnell, aber sein Puls beruhigte sich etwas. Er öffnete die Augen und schaute nach oben ins Blätterdach. Die Bäume auf dem Berg unterschieden sich von denen unten im Wald, sie hatten lange dünne Stämme und Nadeln. Die Analyseeinheit hätte ihm jetzt den Namen der Baumart angezeigt. Er wusste so wenig von der Außenwelt. Hatten die Menschen früher mehr über Bäume und Ähnliches gewusst? Er hatte sich nie für solche Dinge interessiert, jetzt bereute er es.
Erst jetzt merkte er, dass der Boden um ihn mit unzähligen braunen Nadeln bedeckt war. Sie strömten einen ihm unbekannten Duft aus. Er mochte den Geruch. Die Baumkronen schwankten leicht im Wind hin und her, es war spürbar windiger als unten. Er spürte etwas an seinem Arm. Kleine Tiere krabbelten an ihm empor, sie waren schwarz und winzig. Er hatte von solchen Tieren gehört, konnte sich aber nicht an den Namen erinnern. In einer fließenden Bewegung richtete er sich auf und strich sich die sechsbeinigen Besucher vom Körper.
Es war schön hier. Er genoss den Moment der Ruhe und Entspannung, er fühlte sich plötzlich so leicht. Keine Anweisungen in seinem Kopf, er war wirklich unbeobachtet und konnte hier einfach liegen bleiben, ohne dass er mit negativen Konsequenzen zu rechnen hatte. Hatte Lia davon gesprochen? Zuvor war ihm der Wald stets nicht geheuer gewesen, jetzt fühlte es sich erstaunlich gut an, hier draußen zu sein. Die Bäume strahlten eine Ruhe auf ihn aus, von seiner anfänglichen Angst war keine Spur mehr vorhanden. Warum war ihm dieses Gefühl bisher vorenthalten worden? Er fragte sich, ob man einen Wald in einer Stadt haben könne und ob auch andere diese Erfahrung mit ihm teilen würden. Vielleicht war es aber besser, wenn man die Menschen von der Natur fernhielt, die Vergangenheit gab allen Anlass dazu. Er merkte, dass er weder die Stadt noch die Gruppe sonderlich vermisste.
Er stand auf und schaute sich um. Von hier aus konnte man das Haus sehen, in dem er aufgewacht war. Es sah winzig aus von hier oben. Er musste noch ein gutes Stück weiter, um einen Blick auf das Gebiet im Osten werfen zu können, glücklicherweise stieg das Gelände hier nur noch leicht an. Die Nadeln auf dem Boden dämpften seine Schritte. Er musste aufpassen, nicht in kleine Löcher im Fels zu treten und umzuknicken. Die Bäume hier oben standen nicht so dicht beieinander, Sonnenlicht fiel durch die Baumkronen und zeichnete scharfe Schatten auf den felsigen Boden. Allmählich lichtete sich der Wald und gab den Blick auf die Landschaft frei.
Die Stadt. Noch nie hatte er sie aus so einer Entfernung gesehen, geschweige denn von oben. Die bläulich-schwarze Pyramide ragte über tausend Meter aus der Ebene empor, die Solarmodule an ihren Wänden schienen das Licht aus der Umgebung geradezu aufzusaugen. Um die Pyramide waren mehrstöckige Felder schachbrettartig angelegt, die die Bewohner mit Nahrung versorgten. Weiter außen kamen die Mauern zum Schutz der Stadt vor Angreifern und Katastrophen. Vier Millionen Schlafzellen gab es in der Stadt, alle befanden sich in der großen Pyramide. Alles dort unten geschah unter Aufsicht des Zentralrechners in der Spitze, zu dem nur die Kleriker Zugang hatten. Sie standen im Rang über allen anderen und hatten die Aufgabe, die Menschen mit ihrer Weisheit zu führen. Der gesamte Bereich innerhalb der Mauern war autark. Im Ernstfall konnte man jahrzehntelang ohne Austausch mit der Außenwelt ausharren. All das kam ihm auf einmal seltsam unnatürlich vor.
Hatte Lia recht gehabt? War er wirklich nur ein Sklave? Ein nützlicher Arbeiter, der sich vollständig dem Willen einer großen Rechenmaschine unterzuordnen hatte? Seit die Schnittstelle fort war, fiel es ihm deutlich leichter, sich zu konzentrieren. Er nahm viel mehr wahr als früher. Gerüche. Details an den Bäumen und Felsen. Er spürte sogar seinen Körper mehr als zuvor. Sein Kopf schmerzte immer noch ein wenig, aber die zahlreichen neuen Eindrücke hatten ihn die Wunde nahezu vergessen lassen.
Er wickelte sich den Verband vom Kopf und strich sich über den geschorenen Schädel. Kleine Stoppeln sagten ihm, dass er wohl mehr als einen Tag bewusstlos gewesen sein musste. Er befühlte die Stelle, an der sich bis vor kurzem die neuronale Schnittstelle befunden hatte. Eine dicke Beule und verkrustetes Blut, aber sonst war er ziemlich glimpflich davongekommen. Lia hatte gut gezielt, sie hätte ihn auch umbringen können.
„Ich bin nicht einmal wütend auf sie“, dachte er bei sich. Vor wenigen Stunden hatte er noch anders gedacht. Er genoss es geradezu, hier allein auf dem Berg zu sitzen, den Wind im Gesicht zu spüren und den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Er genoss es, allein zu sein. Allein.
Nach dem Aufwachen hatte er sich hilflos und unwohl gefühlt, er hatte sich nach dem Schutz und der Geborgenheit der Gruppe gesehnt. Jetzt war er allein, aber es machte ihm überhaupt nichts aus, er vermisste die anderen nicht einmal. „Ich schulde denen gar nichts“, dachte er mit Blick auf die Pyramide. Warum war ihm all das hier draußen vorenthalten worden? Würden auch andere Bewohner der Stadt lieber hier draußen sein? Warum war die Außenwelt ganz anders als in den Geschichten?
Er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde nicht wieder in die Stadt zurückkehren. Nie wieder. Er wollte nicht mehr Teil dieser Maschinerie sein, es war doch viel schöner, unbeobachtet und frei von Zwängen zu sein. „Die suchen ja nicht einmal nach mir, ich bin denen doch völlig egal“, dachte er, während er seinen Blick über die Pyramide schweifen ließ. Erst jetzt merkte er, wie fehl am Platz das ganze Konstrukt war. Es passte überhaupt nicht in die Landschaft, es versuchte nicht einmal, hineinzupassen. Er war nur noch abgestoßen von diesem kalten Ort, von dieser unmenschlichen Scheinwelt, von diesem unnatürlichen Geschwür. Er würde nie wieder dorthin zurück müssen.
Dieser Gedanke fühlte sich unglaublich befreiend an für ihn, er wusste, dass jetzt ein neuer Lebensabschnitt auf ihn wartete. Es würde nicht einfach werden, auf sich allein gestellt in der Natur zurechtzukommen, dennoch war er zuversichtlich, was die Zukunft anging. Er würde versuchen, Lia zu finden, andere Menschen zu finden. „Bin ich jetzt ein Aussätziger?“, fragte er sich. „Wie viele Menschen leben außerhalb der Stadt? Gibt es andere Städte? Gibt es Städte mit freien Menschen?“ Er hatte so viele Fragen. Konnte Lia sie ihm beantworten?
Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Sie hat einen Namen!“, rief er mit überraschter Stimme. Ein paar Vögel flogen aufgeschreckt davon. Er hatte keinen Namen, nur Kleriker durften Namen haben. Späher hatten Nummern. „Sie muss sich den Namen selbst gegeben haben“, sprach er nachdenklich vor sich hin. „Dann sollte ich mir auch einen geben.“ Er kannte keine Namen, außer denjenigen einiger Kleriker, mit denen er aber nichts zu tun haben wollte. Da erinnerte er sich an das Bild, das er im Haus gesehen hatte. „Ab heute nenne ich mich William“, sagte er mit fester Stimme. Auch wenn ihn keiner hören konnte, er wollte sich der Welt mitteilen. Er fühlte sich gut, er war noch nie so zufrieden gewesen.
Heute würde er die Nacht im Haus verbringen, dort gab es einen Schlafplatz und Verpflegung für ihn. Außerdem würde er Lia am ehesten dort antreffen. Bald würde es dämmern, er wollte zurück sein, bevor es zu dunkel sein würde. William kehrte der Stadt den Rücken und machte sich auf den Rückweg.
*
Es war stockdunkel. Der Schlamm in Williams Gesicht war bereits an manchen Stellen eingetrocknet. Die Tarnung war nötig, sie kühlte auch seinen Körper und schirmte seine Körperwärme ab. Es juckte unterhalb seines rechten Auges, aber er musste ruhig bleiben, verharren.
Es war ein halbes Jahr her, seit er der Stadt den Rücken gekehrt hatte. Seitdem war viel passiert, er hatte sehr viel Neues erfahren und andere Menschen kennengelernt. Die Welt war viel größer, als er es sich vorgestellt hatte. Es gab riesige Städte, in denen unzählige Menschen lebten. Die Leute schienen viel zufriedener als die Bewohner der Pyramide, es gab sogar Menschen mit Neuroschnittstellen, die völlig frei lebten und nicht von einem Zentralrechner kontrolliert wurden. Aber die meisten verzichteten freiwillig darauf, sich etwas in den Kopf pflanzen zu lassen. Fast alles, was er über die Vergangenheit zu wissen geglaubt hatte, war falsch. Es hatte nie eine Katastrophe gegeben, die die Erde fast zerstört hatte. So vieles war ihm vorenthalten worden, er hatte das Gefühl, erst mit der Befreiung richtig zum Menschen geworden zu sein.
Er wollte keine Rache, aber er wollte auch anderen diese neue Welt aufzeigen, die er in den vergangenen Monaten hatte kennenlernen dürfen. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, einzelne Pyramidenbewohner zu befreien. William saß hoch oben auf einem Baum, bedeckt von Laub und Schlamm, und wartete.
Er hörte ihre Schritte. Das Knacken der Äste unter ihren Stiefeln. Die Gruppe bewegte sich in gewohnter Formation, vorne die Späher, in der Mitte die Jäger und hinten die Sammler. Heute wollte er unbedingt einen Jäger in die Finger bekommen. Sein Puls erhöhte sich, er versuchte, möglichst leise zu atmen, er durfte nicht auffliegen.
Zwei Späher waren bereits wenige Meter von ihm entfernt vorbeigelaufen, sie hatten ihn nicht bemerkt. Solange er ihre Sensoren austricksen konnte, war er nahezu unsichtbar für die Gruppe. Zusammen waren sie wie ein Organismus, gegen den William keine Chance hätte, aber die neuronale Singularität verdeckte auch Details für den Einzelnen.
Er erspähte einen Jäger. Dieser hatte eine andere Ausrüstung als die Späher, hatte eine bessere Waffe und war groß und kräftig. William wusste, dass er nicht entdeckt werden durfte, im direkten Kampf hätte er keine Chance gehabt. Er musste den Jäger in die Falle locken. Ein gezielter Schuss auf die Schnittstelle, um ihn von der Gruppe zu trennen, und anschließend musste der Mann möglichst schnell vom Tatort verschwinden. Der Jäger ging direkt den Weg entlang, den William sich ausgemalt hatte. „Perfekt“, dachte William. Er zielte auf den Hinterkopf des Mannes.
Er drückte den Abzug. Der Harpunenpfeil schoss heraus und zog ein dünnes Drahtseil hinter sich her, dessen anderes Ende an einem dicken Ast befestigt war. An der Pfeilspitze befand sich ein starker Magnet, der die Elektronik der Schnittstelle lahmlegte. Der Jäger wurde durch den Aufprall sofort ohnmächtig.
Mit einer Seilwinde zog William den Körper des Mannes empor und hievte ihn auf einen großen Ast. Mit einer Decke verhüllte er den Jäger, damit dieser nicht von den Wärmesensoren erfasst werden konnte.
Mittlerweile waren unten weitere Jäger und ein Sammler eingetroffen. Hektisch redeten sie durcheinander. Einer der Jäger schaute nach oben, aber er sah weder William noch seinen Kameraden. Nach wenigen Minuten gingen sie wieder weiter. Die Mission war wichtiger als der Einzelne. William war zufrieden mit seiner Beute.
Es war der Dritte in diesem Monat.
Jan Reindl ist Lehrer und gewann 2020 mit einer Science-Fiction-Kurzgeschichte den Libertären Literaturpreis. In ef 202 schrieb er zuletzt über „Politik in Zeiten der Pandemie: Begeht die Regierung eine Dummheit?“.
Berlin, Reichskanzlei, 29. Juni 1890
Es klopfte an der Bürotür des neuen Reichskanzlers. Es war schon spät am Abend, aber von Caprivi arbeitete noch. Immer noch galt es, sich einzuarbeiten in die Hinterlassenschaft seines Vorgängers, und die Unterschrift des wohl wichtigsten Vertrages seiner jungen Amtszeit stand unmittelbar bevor: die Neuregelung der deutschen und britischen Einflusssphären in Afrika nebst der Übernahme der vom Kaiser so geliebten Insel Helgoland, der auch er eine gewisse strategische Bedeutung zugestehen musste.
„Herein!“, rief er leicht düpiert.
Es war Legationsrat Friedrich Richard Krauel. „Was gibt‘s denn jetzt noch, Krauel?“, blaffte von Caprivi ihn an.
„Es gibt schlechte Neuigkeiten aus Afrika, verehrter Reichskanzler!“
„Schießen Sie los. Butter bei die Fische.“
„Der Sultan von Witu hat Wind von dem Vertrag bekommen. Er streitet uns sämtliche Rechte ab und beansprucht das gesamte Wituland uneingeschränkt für sich“, berichtete der Legationsrat.
„Na und? Was interessiert uns dieser Negerkönig von Posemuckel?“, erwiderte von Caprivi ärgerlich. „Wichtig ist doch nur, die Briten glauben, dass wir die Herrschaft innehaben und zugunsten des Ausgleichs darauf verzichten werden“, fuhr er fort.
„Das ist ja das Problem. Der Sultan scheint Sir Malet informiert zu haben. Die Briten fordern eine Vertragsänderung.“
„Was?“, rief der Reichskanzler aufgebracht. „Jetzt, auf dem letzten Meter der Rennbahn, sollen wir uns noch einmal mit diesen unsäglichen Landkarten der afrikanischen Wildnis befassen? Dieser Eingeborenenhäuptling hat keine Macht, und wenn die Briten es wollen, ist er in Kürze hinüber.“
„Ich stimme Ihnen zu, mein Herr, jedoch versuchen die Briten natürlich, Kapital aus der Sache zu schlagen. Sie meinen, Wituland sei eigentlich wertlos, da ja andere Ansprüche bestünden, und dafür könne man Helgoland nicht ohne weiteres aufgeben.“
Nun kam das galizische Temperament des Reichskanzlers in Wallung: „Sind die von Sinnen? Wir geben Hunderte von Quadratmeilen für einen von dreckigen Möwen vollgeschissenen Felsen aus. Ein karges Nichts, auf dem es immerfort regnet und stürmt, behaust von stinkigen Fischern, die ein Kauderwelsch daherblöken, als seien sie der Spitze von Babels Turm selbst entsprungen.“ Er schüttelte vor Empörung den Kopf. „Was fordern die Limeys?“
„Es ist natürlich vorgeschoben. Malet fordert, dass wir Helgoland zurückgeben sollen, wenn der Sultan seinen Gebietsanspruch über Wituland behaupten kann.“
„Das sieht dem Schlitzohr ähnlich. Unseren Einsatz für wertlos erklären, um dann hinterher den Preis zurückzunehmen.“
Von Caprivi wandte sich zu seinem Schrank und schenkte zwei Gläser Portwein ein. Er reichte Krauel eines, der es nickend annahm. Er bot ihm auch eine Zigarre an, entfachte ein Streichholz und zündete sich dann selbst seine an. Mit einem qualmenden Stumpen im Mund konnte er am besten nachdenken.
„Wenn ich mich recht erinnere, hat dieser Sultan gerade mal vier Dutzend Mann unter Waffen. Wenn die Briten es wollten, wäre er morgen Geschichte.“ Er überlegte weiter. „Sie werden ihn sich kaufen und wie eine Spieluhr aufziehen. Als britische Marionette wird er dann ganz offiziell seinen Gebietsanspruch geltend machen, was den Briten als Rechtfertigung dienen wird, die Rückgabe Helgolands zu fordern.“
Blau-graue Nebelschwaden durchzogen mittlerweile den Raum. Die Venen an von Caprivis Stirn pochten. Seine Strategie nahm Formen an. Tief drinnen war er Militär, kein Politiker. Er wusste, dass der Kaiser dieses strategische Geschick schätzte, ihn jedoch vornehmlich wegen seines Gehorsams ausgewählt hatte. Doch obwohl er erst wenige Wochen im Amt war, ließ der Kaiser ihm in der lästigen Vertragsausarbeitung freie Hand.
Nach etwa zehn Minuten blies er eine lange, kräftige Rauchwolke aus. „Wir stimmen zu“, vermeldete von Caprivi fröhlich. „Natürlich nicht bedingungslos. Krauel, notieren Sie den Zusatz zum Artikel XII!“
Von Caprivi diktierte lachend: „Sofern die Bevölkerung Witulands und Sansibars die britische Kolonialvormacht nicht anerkennen sollte, kann möglicherweise der vertraglich vereinbarte Tausch nicht realisiert werden. In diesem Falle fällt Wituland zurück unter deutsches Protektorat. Es kann aber innerhalb der jeweiligen Bevölkerung abgestimmt werden, ob sie Unabhängigkeit erlangen wolle oder welchem Staatsgebiet sie zugehörig sein möge. Sollte dem so geschehen, kann es auch eine Abstimmung unter der Bevölkerung des Eilandes Helgoland geben, und diese vermöge zu entscheiden, ob sie weiterhin dem Deutschen Reich, dem Vereinigten Königreich oder einer anderen Macht angehören oder sich selbständig regieren möchte. Punkt. Unsere Rechtsverdreher sollen das aber noch mal in ihr Kauderwelsch umschreiben.“
Von Caprivi schickte einen Ring aus Zigarrenhauch in den Orbit seines Arbeitszimmers.
Auch Krauel zog an seiner Zigarre und fasste dann kurz zusammen: „Sehr gut, Herr Reichskanzler. Wenn die Briten den Sultan bestechen und sich dieser pro forma für unabhängig erklären will, machen wir das mit den Helgoländern genauso. In dem Fall hat keiner etwas von dem Tausch. Er wird einfach rückabgewickelt, aber wir haben sehr gute Chancen, dass die Helgoländer fürs Reich stimmen werden, sollte es zu einem Plebiszit kommen. Damit aber hätten die Briten nicht gewonnen.“
23.05.2024, Büsum
Freerk Rickmers betrat die kurze Gangway und ging an Bord der „Funny Girl“. Ein Matrose kontrollierte seinen Fahrschein und riss ihn ab. Es erschien ihm, als sei die Zeit hier nicht fortgeschritten in den knapp zehn Jahren, die er weg gewesen war. Die „Funny Girl“ war 1973 in Dienst gestellt worden und machte nach 51 Dienstjahren einen zwar etwas antiquierten, aber doch sehr flotten und seetüchtigen Eindruck. Er musste lächeln, als ihm in den Kopf schoss, dass in zehn Jahren das „lustige Mädchen“ die Lebensdauer der „Gorch Fock“ erreicht haben würde. Das einst so stolze Aushängeschild der bundesdeutschen Marine, das den Zehn-Mark-Schein schmückte, benannt nach dem großen niederdeutschen Dichter, symbolisierte wie kein anderes den rapiden Zusammenbruch, den dieses marode Land erleiden musste. Bereits 2020 wurde die „Gorch Fock“, mittlerweile eine Ausgeburt der Korruption, außer Dienst gestellt und für einen symbolischen Euro an einen holländischen Centerpark verramscht.
Rickmers stellte seine beiden Koffer zu dem anderen Gepäck zwischen die Sitzreihen im Achterdeck und ging die Stufen nach oben zum Oberdeck des Schiffes. Es war ein sonniger Tag, der dem Frühsommer alle Ehre machte, bis auf ein paar Zirren wolkenfrei, und der Wind wehte nur mäßig. Gegen eine geringe Gebühr konnte man einen Liegestuhl auf dem Oberdeck mieten. Rickmers war müde. Er war nun seit fast zwei Tagen reisend auf den Beinen und hatte über 10.000 Kilometer abgerissen. Für einen Viertel-SilverBit reservierte er sich beim Stewart einen Deckchair nebst Wolldecke und machte es sich darauf bequem. Er schloss die Augen. Ruhig atmete er die salzige Seeluft ein und entspannte den ermatteten, über den halben Erdball gejetteten Leib. Doch je intensiver er den Schlaf suchte, desto lebendiger erwachten die Erinnerungen. Scheinbar ziellos tanzten sie über die Leinwände seiner verschlossenen Augenlider. Seine Kindheit: im Sand spielen am Nordstrand; mit Vater auf Dorsch und Makrelen angeln am Süderhafen und anschließendem Räuchern in Großelterns Schrebergarten; die ersten Schwimmversuche im Meer; mit Peter und Sönke klettern im roten Fels bis zur Nische oben und hier verborgen die ersten Zigaretten rauchen, zurück zum Plateau und dort die Trottellummen ärgern; Fußball spielen beim Fosite; Fahrten zum Festland, mal halb sterbend speiend oder quicklebendig Karten spielend; das Meer, das weite Meer; die Weite, vermehrte Weite auf hoher See. Diese Farben unbeschreiblich, wer rührt die Farben des Eilandes, des Himmels, der Weite zusammen? Mal blass, mal satt, mal glanzfein glasklar, mal trüb und durchgewalkt.
Der Wind, ob stark oder schwach: immer da. Nur bei Nordwest im Schatten gesellt er sich zur Ödnis der Siedlung: schmucklose, praktische Behausungen aneinander dicht gereiht, wie Bienenwaben. Doch drinnen, in der Enge, gelebte Lebendigkeit, kommodige Genügsamkeit, immer die Weite da draußen im Bewusstsein respektierend.
Der Sommer, nie enden wollende Tage; helle Klarheit, der Himmel gemalt in einem einmaligen Blau, wie es nur hier sein kann. In der Luft auch nachts noch Wärme und Gelärme von gelaunten Gästen, taumelnd ihren Trubel, ihren Rausch, ihr Vergessen durch die kleinen, raren Gässchen.
Der Winter nass und stürmisch, ein Verkriechen in der Enge, aufgelockert gelegentlich durch eine kommodige Zusammenkunft, sie trinken Teepunsch und Grog, snakken en songen iip Halunder. Einmal täglich flackert es kurz grau auf, doch meist ist es dunkel. Kalt und stets unermüdlich, wie ein an Parkinson Erkrankter rüttelt der Wind, immerzu. Ohne Unterlass.Freerk schlief.
Die zuweilen kappelige See ließ es einigen Fahrgästen mulmig werden. Freerk jedoch wurde nur noch tiefer in den erlösenden Schlaf geschaukelt. Seine müden Glieder ruhten, während die „Funny Girl“ schaukelnd durch die Nordsee pflügte. Sein müder Körper und sein Brägen schöpften daraus Kraft für die bevorstehende Aufgabe: seine Heimat neu zu formen.
Jäh ließ ihn der Ruf des Schiffshorns aufschrecken. Früher hatten die Fähren so die traditionellen Börteboote begrüßt, die sie von ihrer lebendigen Fracht befreiten. Mit Beginn der Großen Rezession und dem Ausbleiben zahlungskräftiger Gäste verschwanden auch die Börteboote. So wie er selbst verdingten sich mittlerweile nicht wenige Halunder in der Diaspora.
Die „Funny Girl“ legte deshalb am Süderhafen an. Freerk schnappte sich seine Koffer und holperte die Gangway hinunter.
23.05.2024, Helgoland
„Welkoam iip lunn“, begrüßte er sich murmelnd selbst. Er war wieder da. Zuhause. Daheim. Auf diesem kleinen Nichts, das einst alles für ihn war. Das irgendwie immer noch alles für ihn war oder im Begriff war, es wieder zu werden. Sonst wäre er nicht hier. Zurück in der freien Enge!
Die Luft war klar und ehrlich, heilsam salzgeschwängert. Sein Eiland wirkte fast noch wie früher. Hier und da, eine andere Farbe, eine neue Silhouette, verblasste Werbetafeln und leere Läden, verwaiste Kneipen, Cafés und Hotels.
Er steuerte aufs Oberland. Dort lebten seine letzten Verwandten auf der Insel, Tante Heidi und sein Onkel Broder. Seine Eltern waren bereits verschieden und seine Brüder aufs Festland gezogen. Von den 1.200 Seelen, die vor der Großen Rezession auf Helgoland lebten, hatten mehr als ein Drittel das Weite gesucht. Den Fahrstuhl ließ er links liegen und marschierte die große Treppe hinauf, bog dann rechts in den Falm und ein Stück weiter links in den Schulweg. Vor dem letzten Reihenhaus gegenüber der Kirche machte er halt und läutete.
Onkel Broder öffnete die Tür. Er hatte sich kaum verändert, etwas magererer vielleicht. Es sind nun mal sozialistische Zeiten, da herrscht Diät, dachte Freerk schmunzelnd.
„Freerk, schön, dich zu sehen. Komm rin, mien Jung!“ Sie umarmten sich, und er folgte seinem Oheim in die kleine, aber gemütliche Stube. Aus der Küche kam seine Tante strahlend auf ihn zu und umarmte ihn ebenfalls. „Schön, dass du wieder da bist, Freerk.“ Und es stimmte, es war schön, wieder da zu sein. Mit einem Sack voll ehrgeizigen Plänen im Gepäck, in der Heimat, für die Heimat.
„Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, Heidi“, sagte er.
„Du kannst in Jörgs Zimmer schlafen. Um eins gibt‘s Essen“, erklärte sie ihm.
„Vielen Dank. Ich habe mich mit Sönke verabredet. Das Essen muss vielleicht etwas warten.“
Er bezog das Gästezimmer, das einst das Kinderzimmer seines Cousins Jörg gewesen war, und machte sich auf den Weg. Den Klippenrandweg bis zum Jägersteig. Dort auf der Bank über dem Sportplatz wartete Sönke auf ihn. Sönke hatte, genau wie er selbst, die Insel verlassen und war seinen Weg gegangen. Schon als Kind war er mit einem sehr ausgeprägten Unrechtsbewusstsein aufgefallen, und so überraschte es niemanden, dass er Jura studierte, mit Schwerpunkt internationales Recht und Staatsrecht in London. Er hatte promoviert und eine Zeitlang für eine renommierte Kanzlei gearbeitet, die für teures Geld neue Gesetze ausarbeitete, weil das Justizministerium nicht in der Lage war, dies selbst zu erledigen. Es galt aber, ohne Unterlass neue Gesetze zu verfassen, zu erlassen und zu beschließen, weshalb man sich externer Hilfe bediente.
Sie waren immer in Kontakt geblieben, zumeist per Mail oder soziale Medien. Vor einem halben Jahr hatten sie sich zufällig auf einer Konferenz in Mexiko wiedergetroffen und entdeckt, dass ihr einstiger kindlich-jugendlicher Freiheitsdrang sich eher noch verstärkt hatte. Wie in alten Kinderzeiten hatte das gemeinsame Pläneschmieden für ein neues Abenteuer begonnen, das nun seinen Anfang nehmen sollte.
Sönke saß auf der Bank, ein Laptop auf den Knien, in das er emsig hineinschrieb. Freerk musste grinsen, als Sönke ihn sah. Er stand auf und ging ihm entgegen, und sie umarmten sich wie Brüder, die lange verschollen gewesen waren. Sie setzten sich auf die Bank. Der Wind blies von Nordwest und ihnen somit direkt ins Antlitz, aber das merkten sie gar nicht. Sie nahmen auch nicht diesen ihnen so vertrauten, doch lange vermissten fabelhaften Blick über den Nordstrand hinweg über das unendliche Meer unter einem unendlichen Himmel wahr. Sie redeten. Ideen flogen hin und her. Wie stellen wir es an? Es gab keinen Dissens über das Ziel. Es ging allein um das taktische Vorgehen. Sie mussten schnell sein und konspirativ.
Der Plan war, möglichst alle Einwohner zu einer Versammlung zusammenzutrommeln, ohne dass mögliche Störer oder Verhinderer Wind davon bekommen würden. Auf Helgoland war mittlerweile relativ wenig Staatsmacht vertreten, natürlich gab es einen Bürgermeister, einen Polizisten, aber das waren Helgoländer. Sorge bereiteten ihnen die Mitarbeiter und bewaffneten Soldaten des Marinefliegergeschwaders. Sie waren zwar zum Teil schon ein paar Jahre hier und hatten Wurzeln geschlagen, einige jedoch waren immer noch fremde und vermutlich sehr staatsgläubige Festländer. Obgleich auch ihre Treue durch den Soldausfall und die grassierende Inflation infolge der Großen Rezession gelitten hatte. Sechs der mittlerweile nur noch zehn Mann starken Besatzung fuhren am Wochenende aufs Festland, und zwar freitags mit der letzten Fähre. Sie würden die Einladungen also verteilen, aussprechen, aushängen und annageln, wenn die Marinevögel ausgeflogen waren.
„Und dann?“, ging es durch ihre Köpfe. „Wie sollen wir die sturen Friesen greifen, in unseren Bann ziehen, festhalten für unsere Ideen?“ Die Zeit war günstig. Deutschland war unausweichlich den Abgrund hinabgeschliddert und drohte in seinem eigenen korrupten Sumpf zu ersaufen. Es herrschte tiefschwärzeste Rezession. Offiziell gab es noch den Euro, aber keiner wollte ihn mehr. Die deutsche Politik in ihrem Phlegma hatte es versäumt, rechtzeitig eine Währungsalternative zum Euro anzubieten. Der Markt regelte das schließlich von allein, und die dezentral-internationale, anarchische, halb kryptische, halb Commodity-Zwitterwährung SilverBit hatte längst Einzug ins tägliche Leben gehalten. Der Euro war als Zombiewährung nun sichtbar, obwohl viele Gutgläubige immer noch die Hoffnung hegten, der Kanzler Habeck würde es schon wieder richten, nachdem er das Klima gerettet hatte. Einige meinten auch immer noch, es bestehe ein tieferer Plan hinter allem. Die Zoll- und Steuervergünstigungen für Helgoland waren allesamt durch die Regierung der demokratischen Einheit gestrichen worden. Die Gäste blieben fern, der wirtschaftliche Untergang Helgolands war damit besiegelt. Parallel wurde die kaschierte Verwesung der deutschen Wirtschaft immer sichtbarer. Überall roch es danach. Und dennoch. Deutsche sind vermutlich das gehorsamste, staatsgläubigste und sicherheitsfanatischste Volk überhaupt. Diese Gedanken machten sie sich.
Einst waren die Friesen ein freiheitsliebendes, umtriebiges Händlervolk gewesen, oft sehr widerborstig gegenüber der Obrigkeit. Aber was war davon im modernen Helgoländer noch übrig? War der Freiheitsdrang noch vorhanden? Schlummerte da tief drinnen noch Risikobereitschaft, Unternehmergeist und der Wille, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, oder hatte der mittlerweile kollabierende Sozialstaat sie alle sozialistisch gehirngewaschen?
Sie diskutierten lange. Allmählich schlich der Abend heran und mit ihm die Kühle, als die Konturen ihrer Taktik endlich klarer wurden. Übermorgen, am kommenden Sonnabend, wollten sie ihre Helgoländer in die Nordseehalle zusammenrufen. Bis dahin galt es, alle zu informieren und zu begeistern, wenngleich sie nicht sehr konkret werden konnten. Es galt, an ihren Reden zu feilen, die Worte zu wägen, noch etwas zu recherchieren und Rücksprache mit den Partnern zu halten. Es fiel nicht ein Wort des Zweifels oder Mutmaßungen über einen Misserfolg. Sie waren sich so sicher wie früher, als sie in den Klippen spazierten, barfuß, bewaffnet mit Feuerzeug und Zigaretten. Aber sie brauchten eine finale Bestätigung aus England, und die wollte Sönke erbringen.
Mit dem befriedigenden Gefühl, ihren Coup ein gutes Stück vorangetrieben zu haben, trennten sich die Komplizen mit einer festen Umarmung, und beide gingen ihrer unterschiedlichen Wege, wenn auch mit dem gleichen unbeschreiblichen Gefühlmix im Bauch. Der Mond robbte allmählich in die Sichtbarkeit der Felseninsel, und sie waren so aufgewühlt, mulmig, eifrig, stolz, respektvoll und herausgefordert, begierig, das Besprochene, das längst Erdachte und bereits vage Geplante nun endlich in die Tat umzusetzen.
25.05.2024, Helgoland
Der Saal der Nordseehalle war voll. Nicht alle, aber doch sehr viele der noch verbliebenen Halunder waren ihrem Aufruf gefolgt. Freerk und Sönke betraten die Bühne und begrüßten die Besucher. „Liebe Freunde, Nachbarn, Helgoländer! Ich denke, die meisten von euch kennen uns. Wir sind, wie ihr, Kinder dieser Insel. Wir müssen uns nicht ausgiebig vorstellen, aber wir waren beide ein paar Jahre fort und haben einige Erfahrungen gesammelt.“
Freerk erzählte kurz von seinem Studium der Architektur in Hamburg. Über die Gründung seiner ersten Firma und den Aufbau des Geschäfts. Er berichtete vom spannenden Umzug auf die Insel Roatán vor Honduras, wo er maßgeblich am Aufbau der Freien Stadt beteiligt gewesen war, die heute zu den prosperierendsten Regionen der Welt gehörte. „Helgoland ist wie die gesamte Bundesrepublik, ja ganz Europa seit Jahren in der schlimmsten Rezession. Der Staat ist pleite, die Banken sind es schon längst, und nur die Verstaatlichung hat sie formell retten können. Fast die Hälfte aller Unternehmen ist ebenfalls bankrott, dem Rest droht Verstaatlichung. Auf dem Festland herrscht Massenarbeitslosigkeit. Aber uns hier hat es noch schlimmer getroffen. Mit der Einführung der Verbrauchssteuern auf Helgoland haben sie uns das Rückgrat gebrochen. Die durch die Dauerrezession eh schon deutlich gesunkene Gästezahl tendiert nunmehr gen null. Ich brauche es euch nicht zu sagen, eure Läden, Kneipen, Cafés, Pensionen und Hotels mussten schließen. Die Börteboote fahren nicht mehr. Fast die Hälfte der arbeitsfähigen Helgoländer ist ins Ausland gezogen. Es sind vornehmlich die Jungen, und wenn wir nichts unternehmen, werden sie nicht wiederkommen. Wir vergreisen und verarmen. Das gesamte wirtschaftliche Leben ist zum Erliegen gekommen, und wir sind nur noch abhängig von den Almosen der Einheitsregierung. Almosen, die jedoch zunehmend gestrichen werden. Almosen, finanziert aus Mitteln, die sie uns zuvor weggenommen haben, wie sie uns unentwegt mit ihren Steuern unter Gewaltandrohung enteignen.“ Er machte eine kurze Pause und musterte die Zuhörer. Waren seine Worte zu radikal? Nein, niemand schüttelte den Kopf oder offenbarte eine ablehnende Körpersprache, stattdessen interessierte Blicke und zuweilen zustimmendes Nicken. Sie kannten ihre hoffnungslose Lage selbst am besten.
„Es liegt in der Natur des Menschen, dass er frei ist“, fuhr Freerk fort. „Wir gehören uns selbst. Jeder Einzelne hier im Saal gehört sich selbst, andernfalls lebten wir in der Sklaverei. Wenn man sich aber selbst gehört, gehören einem auch die Früchte der eigenen Arbeit, und das ausschließlich und zu hundert Prozent. Wie kann es aber dann sein, dass aus Kiel und Berlin abkommandierte Beamte meinen, man könne einen Teil dieser Arbeitsleistung stehlen, um den maroden Staatsapparat in seiner Gier am Leben zu erhalten? Wie kann es sein, dass sie dir die Hälfte deines Einkommens nehmen? Wenn du nicht mitspielen willst, wirst du ins Loch gesteckt. Darfst du denn jemanden einsperren? Nein, natürlich nicht. Wenn kein Bürger jemanden einsperren darf, wie kann es dann sein, dass der Staat, der vorgibt, die Gesamtheit der Einwohner zu vertreten, Leute einsperren darf? Wie leitet er sich dieses Recht her, Menschen in Unfreiheit zu pferchen? Sie rauben uns nicht nur unsere Arbeitsleistung, nein, unsere tägliche Nahrung verteuern sie mit ihren Steuern. Und das so perfide, dass sie die Unternehmen, die Handwerker, die Ladenbesitzer auch noch zu ihren ungewollten Steuereintreibern machen. Wenn du dein menschliches Grundbedürfnis auf Wohnen erfüllen möchtest, halten sie mehrfach die Hand auf. Selbst die Kranken zocken sie ab, bereichern sich an ihrem Leiden und verlängern es, da sie die Heilung verteuern. Das Ganze nennen sie dann noch Sozialstaat.“ Freerk merkte, dass er anfing, sich in Rage zu reden. Er trank einen Schluck Wasser und zügelte sich innerlich. Er wollte keinesfalls hysterisch wirken.
„Der Staat ist bankrott, die Währung hinüber. Der Euro wird nur noch vom Staat zur Bezahlung von internen Staatsausgaben wie Gehältern verwendet. Er ist zur neuen Ost-Mark verkommen. Holland, Finnland, Estland und Irland haben sich bereits aus dem Euro verabschiedet oder sind kurz davor. Das bedeutet aber, dass die Last der deutschen Schultern, die diese Missgeburt Euro zu tragen haben, noch schwerer als ohnehin werden wird. Im freien Markt handeln wir längst mit verbotenem Gold und Silber und seiner digitalen Version SilverBits oder mit Dollar, Franken oder Pfund. Der freie Markt lässt sich nämlich nicht von gedrucktem Scheingeld blenden.“
Dann übergab er an Sönke, der kurz über seine juristische Ausbildung und Laufbahn in London berichtete. „Vor der Großen Rezession waren von den 82 Millionen Deutschen immerhin noch 15 Millionen Nettosteuerzahler. Nun sind die meisten davon entweder arbeitslos und pleite oder fort. Alle, die es konnten, sind gegangen. An Orte, die mehr Freiheit und ein besseres Auskommen versprachen. Aber warum müssen wir unsere Heimat verlassen? Wäre es nicht besser, wenn unsere Heimat diese künstlichen, raubenden und freiheitseinschränkenden Konstrukte wie BRD, Euro-Land, EU verlassen würde? Vielleicht habt ihr von Büsingen gehört. Es stand natürlich nicht in der Zeitung oder kam in der ‚Tagesschau‘. Vermutlich, damit es keine Nachahmer findet. Dieses württembergische Dorf hat sich letzten Monat per Abstimmung von Deutschland losgesagt und sich formell dem Fürstentum von Liechtenstein angeschlossen. Das Areal dieser Gemeinde liegt komplett innerhalb des Schweizer Staatsgebietes. Die BRD kann keine Truppen schicken, ohne die Neutralität der Schweiz zu verletzen. Die Schweiz hat die Drohgebärden der deutschen Einheitsregierung unmissverständlich zurückgewiesen, da sie für das Fürstentum Liechtenstein quasi eine Schutzmacht ist. Der Fürst indes prüft zunächst noch, ob Büsingen Teil des circa zwei Autostunden entfernten Fürstentums werden kann. Die Büsinger berufen sich auf eine Liechtensteiner Besonderheit. Die Verfassung des Fürstentums räumt dessen einzelnen Gemeinden ein Sezessionsrecht ein. Nun meint Büsingen, dass dies doch auch umgekehrt, also für einen Anschluss gelten könne. Aber selbst wenn nicht, kann sich Büsingen natürlich auch der Schweiz anschließen oder einfach ein unabhängiger Kleinstaat werden. Auf Usedom gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Leuten, die die Insel an Polen, als eigenständige Sonderwirtschaftszone, angeschlossen wünschen. Sie schauen seit Jahren neidisch auf die prosperierenden Sonderwirtschaftszonen im polnischen Grenzgebiet, während es auf deutscher Seite stetig bergab geht. Ähnlich verhält es sich in Südschleswig. Es sind nicht mehr nur Mitglieder der dänischen Minderheit, die eine neue Volksabstimmung über den Anschluss des Landesteils ans Königreich fordern. Auch viele Deutsche und Friesen wünschen sich die Loslösung von der BRD. Die Leute sind es satt, aus fernen Zentralen ausgeplündert, drangsaliert und kommandiert zu werden. Das Lösungswort, oder Losungswort, heißt ‚Sezession‘, also die Abspaltung vom großen, molochartigen Staatsgebilde. Vor gut einem Jahr saß ich bei einem Feierabendbier mit einem Kollegen. Ich erzählte beiläufig, dass ich von der Insel Helgoland stammte. Da horchte mein Kollege auf. Helgoland? Die Insel, die einst britisch war und die Großbritannien gegen Sansibar und Wituland eingetauscht hatte? Wituland sagte mir nun gar nichts, und da erzählte er mir, dass dies ein ehemaliges Sultanat im Gebiet des heutigen Kenias war. Es war auch Teil des Tausches. Er berichtet mir weiter, dass er während seines Studiums darüber mal eine Hausarbeit geschrieben hatte. Die vertragliche Situation war etwas verzwickt, weil die Briten und die Deutschen den Tausch zwar beide wollten, sich aber gegenseitig nichts gönnten und arg misstrauten. Er hatte das Ganze nicht mehr ganz auf dem Schirm, versprach aber, sich bei mir zu melden und mir seine Arbeit weiterzuleiten. Wir besprachen den Vertrag dann ein paar Tage später, zusammen mit einem weiteren befreundeten Staatsrechtler. Als wir uns das Vertragswerk genauer ansahen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wir alle drei gehen davon aus, dass Helgoland längst eine Volksabstimmung über den Verbleib in Deutschland hätte ausrichten können beziehungsweise müssen. Das Deutsche Reich hat diese Klausel selbst in den Helgoland-Sansibar-Vertrag eingebracht. Die Bundesrepublik ist Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches und muss das Ergebnis eines derartigen Plebiszits anerkennen. Meine Kanzlei berät hochrangige Regierungsvertreter in London. Das ermöglichte mir, diese Angelegenheit dem Premierminister vorzutragen. Nun, der Premier hat noch aus Brexit-Tagen ein Hühnchen mit der deutschen Regierung zu rupfen. Er war sichtlich hocherfreut, lachte und feixte wie ein Kind. Wir tranken Tee miteinander. Er ermunterte mich, die Abstimmung schnellstmöglich abzuhalten, und er bot, ohne dass ich darum gebeten hatte, den diplomatischen und, wenn‘s sein müsse, den militärischen Beistand Großbritanniens an, falls es zu deutschen Gegenmaßnahmen kommen sollte.“ Er übergab das Wort wieder an Freerk.
„Tja, und nun stehen wir hier, vor euch, mit euch auf unserem Eiland und möchten für die Idee werben. Für eine unabhängige, selbstverwaltete Insel Helgoland. Einige fragen sich nun, was soll das bringen? Wir werden keine Sozialleistungen mehr aus Berlin bekommen. Sie ziehen unseren Arzt ab, der Polizist, die Lehrer, alle werden gehen, weil die Regierung sie natürlich nicht bezahlt. Vielleicht kappen sie auch noch die letzte Schiffsverbindung mit der ‚Funny Girl‘. Sie werden womöglich unsere Habe auf dem Festland konfiszieren, die Konten einfrieren, Bankschließfächer öffnen und den Inhalt stehlen. Unsere Kinder werden vielleicht nicht mehr aufs Festland in die Schulen gehen können. Wir sind dann nicht mal EU-Bürger und brauchen vermutlich ein Visum, wenn wir rüber wollen. Das sind sicher alles berechtigte Zweifel und Überlegungen. Aber wir entgegnen euch: Nein. Legt die Zweifel ab. Sozialleistungen wird keiner benötigen. Wir haben die Börte, eine große Familie, als traditionellen Verein, mit dem wir seit eh und je Hilfsbedürftige auf freiwilliger Basis unterstützt haben. Diesen Schatz müssen wir nur heben. Natürlich müssen wir seine Schatztruhen auch wieder füllen, aber das ist gar nicht so schwer. Einst waren wir das einzige Steuerparadies in Deutschland, und das sollten wir wieder werden. Wir befreien uns von sämtlichen unnützen Gesetzen. Wir führen die Privatrechtsordnung ein, mit Hilfe derer wir Konflikte vermeiden und lösen werden, ohne dass sich der Staat, als größter Verursacher von Konflikten, an Macht und Geld bereichern kann. Im Grunde genommen reichen die Zehn Gebote aus.“ Er musste schmunzeln. „Leute wie Sönke sind dann vielleicht arbeitslos, können dann aber immer noch im Börteboot mitfahren.“
„Wir brauchen keinen Staat. Alle Aufgaben kann auch eine Dienstleistungsfirma übernehmen. Jeder entscheidet selbst und freiwillig, welche Leistungen er in Anspruch nehmen möchte, und bezahlt auch nur dafür. Jeder kann sich an der Firma beteiligen. Diese wirtschaftliche Freiheit wird Investoren, Geschäftsleute, Firmen und Gäste anlocken. Zum Teil werden sie hier bleiben, und das können sie auch, wenn sie unsere Regeln befolgen. Schaut nach Monaco, Liechtenstein, Dubai, Singapur, Hongkong und Roatán in Honduras, das ich vier Jahre mit aufgebaut habe. All diese in wirtschaftlicher Hinsicht liberalen Kleinstaaten und autonomen Zonen erfreuen sich höchster wirtschaftlicher Blüte und haben zum Teil zweistellige Wachstumsraten, und das in einer Zeit, in der sich die übrige Welt bereits im fünften Jahr in der Rezession befindet. Es wird nicht lange dauern, und in den Läden, Kneipen, Cafés, Hotels wird es wimmeln von Gästen wie nie zuvor. Wir werden uns dann die besten Ärzte leisten können, die besten Lehrer werden zu uns wollen, die besten Schulen und Universitäten der Welt werden offene Türen für unsere Kinder haben, und wir werden deren Schulgelder mit Leichtigkeit bezahlen können. Viele gute Leute werden zurückkommen. Sönke hat es gesagt: Großbritannien wird eine Art Schutzmacht sein. Großbritannien ist im Übrigen gegenüber Steuerparadiesen nie feindlich eingestellt gewesen. Mit der Isle of Man, Guernsey und Jersey unterstehen der Queen ja selbst einige. Deutschland wird es nicht wagen, unser Eigentum zu konfiszieren. Der Prime Minister wartet nur darauf. Wir haben eine gute geographische Lage und sind nicht auf Deutschland angewiesen. Wir können eine neue Katamaran-Fährverbindung von Groningen einrichten. Wir haben den Flughafen auf der Düne. Er wartet nur auf neue, internationale Flugzeuge. Wir müssen sie nur einladen.“
Nun übernahm Sönke wieder das Wort. Er hatte die Zuhörer aufmerksam beobachtet, und sein Eindruck war durchaus positiv. Die überwiegende Mehrheit war sicherlich nicht abgeneigt.
„Wir möchten diese Idee mit euch in den nächsten Tagen und Wochen weiter diskutieren. Wir brauchen natürlich auch eure Ideen, euren Input. Freerk bringt sehr viel Erfahrung aus seiner Arbeit in der Freien Privatstadt mit, aber jedes Projekt, jeder Ort und auch die Menschen und ihre Mentalitäten sind natürlich verschieden. Wir brauchen eure Hilfe. Wir müssen unsere Zukunft gemeinsam gestalten.“ Er räusperte sich, denn nun kam er zum wichtigsten Moment des Abends.
„Der Premierminister drängte mich zur Eile. Ich weiß nicht wieso, denke aber, die Gründe liegen vielleicht tiefer als seine Rachegelüste. Möglicherweise plant die Einheitsregierung weitere einschneidende Maßnahmen. Möglicherweise steht aber auch der Premierminister, der ja bekanntermaßen in Europa verhasst ist, wieder in der Schusslinie. Wir sollten deswegen heute Abend noch abstimmen. Es sind circa 450 Leute hier. Das sind ungefähr zwei Drittel der noch auf der Insel verbliebenen Helgoländer. Die, die auf dem Festland oder im Ausland sind, können wir nicht fragen. Wir können einfach per Handzeichen abstimmen. Wir filmen die Abstimmung, und das sollte dann Beweis genug sein. Seid ihr mit dem Prozedere einverstanden?“ Freerk filmte nun alles mit seinem Smartphone.
Aus der Menge rief es laut „Ja!“, und es folgte überwiegendes zustimmendes Nicken. „Wer ist damit nicht einverstanden?“ Keiner meldete sich. Damit hatten sie nicht gerechnet.
„Okay, danke. Liebe Freunde. Wir haben tatsächlich eine Wahl. Der Zeitpunkt könnte vielleicht gar nicht besser sein. Wir können natürlich lethargisch alles so belassen, wie es jetzt ist. Wir können uns weiter gängeln und schröpfen lassen von der sogenannten Regierung der Einheit im fernen Berlin und von Bürokraten in Brüssel, die niemand jemals legitimiert hat. Wir können weiter untätig zusehen, wie unsere Heimat weiter zugrunde geht, fremdbestimmt ausgeplündert wird und intervallartig von den unsinnigsten Bevormundungsideen der Berliner Hipsterelite überzogen wird. Wir können erdulden, wie sie uns weiter enteignen, mit neuen Steuern, mit ihrem Scheingeld, das sie ohne Unterlass drucken. Wir können uns weiter diesen Leuten ausliefern. Leuten, die noch nie in ihrem Leben wirklich gearbeitet haben, die die Wirklichkeit verneinen und ihre weltfremde und menschenverachtende Ideologie der Gleichmacherei und Unfreiheit als Waffe gegen uns einsetzen, indem sie die Bevölkerung blenden, framen und mit ihrer Propaganda willig machen. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass er Sicherheit der persönlichen Freiheit vorzieht, und nur deswegen können sich die schlimmsten Regierungen viel zu lange an der Macht halten. Sie haben dieses Land jedoch so abgewirtschaftet, dass sie selbst Sicherheit nicht mehr ansatzweise liefern können. Es gehört zum Prinzip eines jeden Staates, dass er die Kriminalität nicht in Gänze bekämpft oder auflöst. Das ist nicht sein Ziel, denn es würde am Ende die Legitimation und somit die Existenz der Staatsmacht in Frage stellen. Aber nun ist diese von Staats wegen tolerierte Kriminalität aus dem Ruder gelaufen. In den großen Städten Deutschlands hat die Polizei schon lange nicht mehr das Sagen. Kriminelle Clans, archaische Parallelgesellschaften, aus dem Ausland gesteuerte religiöse Fanatiker haben das Heft übernommen. Die Ordnungshüter, die Polizisten, die etwas taugten, haben zu Tausenden den Dienst quittiert und sind ins Ausland gezogen oder in die Privatwirtschaft gewechselt. Das Geschäft mit Gated Communitys boomt, und die zahlen viel besser als der bankrotte Staat, und das sogar mit echtem Geld. Aber auch die Sicherheit des Wohlstandes ist längst verspielt an den Roulettetischen im Kanzleramt, in der EZB und in Brüssel. Die Minuszinsen, die die Wirtschaft hätten ankurbeln sollen, haben uns nur weiter enteignet. Erspartes fällt dem Fraß dieser Geldfäule zum Opfer. Der Staat macht weiter munter Schulden auf Kosten unserer Kinder. Sie werden es nie zurückzahlen können, und so wird die Enteignung weitergehen. Die Banken sind mittlerweile fast alle verstaatlicht. In der Realwirtschaft schreitet der Prozess voran. Ehemals weitestgehend in privater Hand befindliche Konzerne, wie VW, RWE und Allianz mussten wegen staatlicher Interventionen gerettet werden und sind mittlerweile zu hundert Prozent in Staatsbesitz. Kurzum, der Staat kann sein Sicherheitsversprechen schon lange nicht mehr halten. Die Regierung selbst hat den vielbeschworenen Gesellschaftsvertrag bewusst ignoriert und gebrochen. Sie tritt diesen imaginären Vertrag, der angeblich zwischen ihr und uns bestanden hat, mit Füßen. Man kann sagen, sie hat ihr eigenes Volk verstoßen, mit Füßen. Ich frage euch daher: Warum sollten wir denen nachlaufen, die sich einen Dreck um uns scheren, die parasitär nur unsere Arbeitsleistung abschröpfen wollen? Wir schulden diesem Staat nichts. Alles, was dieser Staat hat, ist gestohlen, und er vergibt es nur an diejenigen, die dafür sorgen, dass das Stehlen weitergehen kann.“
Das war vielleicht etwas zu harter Tobak für Menschen, die sich noch nie wirklich staatskritische Gedanken gemacht hatten, dachte er. Aber es gab keinen Widerspruch. Die Helgoländer waren in den letzten Jahren arg gebeutelt worden von der Einheitsregierung. Natürlich, dieser Schnitter und die Große Rezession ernteten überall den Wohlstand und verbreiteten den ökonomischen Tod. Auf der Insel hatte man zudem in der Hoffnung, noch mehr Gelder aus der Bevölkerung zu pressen, die Verbrauchssteuern des Festlandes eingeführt. Dann wurden fast alle Staatsausgaben für die Insel gestrichen. Staatsbedienstete wurden entlassen. Sie waren dieser Regierung überdrüssig. Sönke fuhr fort: „Wir Friesen sind seit jeher ein Volk von Freien. Bereits unsere Vorfahren haben sich gegen viele Feinde und Invasoren, die sie unterjochen wollten, mit Händen und Füßen gewehrt. Sogar Kaiser Karl hat vor über tausend Jahren unsere Freiheit bestätigt. Ihr kennt alle die Geschichten unserer Freiheitskämpfer Grutte Pier, Claus Reimers und von vielen anderen. Ich weiß nicht, ob die Freiheit uns im Blut sitzt, oder in der Muttermilch. Vielleicht macht es auch der Wind, der immerzu frei ist und auf uns abfärbt.
1950, als Georg von Hatzfeld und René Leudesdorff unsere Insel zurückeroberten, wurden sie getrieben von dem ureigenen Drang nach Freiheit. Sie dachten nicht an ihre persönliche Sicherheit. Es war die Liebe zu ihrer Insel und die Liebe zur Freiheit, die sie antrieb. Sie retteten das Land vor der physischen Zerstörung durch den britischen Bombenmüll und die kulturelle Zerstörung durch das Leben verstreut in der Ferne, in der Diaspora. Wir stehen wieder vor einem ähnlichen Scheideweg, denn viele sind gegangen und werden ohne Lockruf nicht wiederkommen. Die Häuser werden weiter zerfallen, die Insel wird in Armut versinken, weil Berlin und Brüssel uns unterjochen, uns ausrauben und auf ihr Sklavenschiff verfrachten wollen. Wir sind aber keine Sklaven! Wir sind freie Menschen, und schon unsere Väter und Großväter waren es. Sie haben uns einen Wahlspruch vererbt: ‚Leewer duad üs slaav.‘ Leewer duad üs slaav. Lasst uns dieses Motto unserer Vorväter leben!“ Sönke spürte die magische Spannung im Saal. Der Plan schien aufzugehen. Sie hatten sie begeistert. Sie waren bewegt, und auch er war bewegt.
Aber er wollte keine frenetischen Sprechchöre provozieren, sie wollten keine Goebbels-artige Propagandashow, sondern überzeugen. Und so wurde er wieder formell.
„Okay, lasst uns nun abstimmen. Wer dafür ist, dass Helgoland fortan seinen eigenen Weg einschlägt und sich auf Grundlage des Helgoland-Sansibar-Vertrages für unabhängig von Deutschland erklärt, hebt bitte die Hand.“
Fast 450 Hände reckten sich zustimmend nach oben.
Es war unglaublich. Das Kollektiv hatte die Freiheit gewählt.
Ein Aufbruch in rosige Zeiten stand bevor.
Leewer duad üs slaav.
Dem alten, so wahren Friesenspruch sollte wieder Leben eingehaucht werden.
Helge Pahl erlernte den Beruf des Kunstschmieds, studierte Germanistik und Skandinavistik, ist Unternehmer, Hobbybrauer, Mitbegründer der Wacken-Brauerei und Biersommelier. Er lebt zusammen mit seiner Frau und drei Kindern in Schleswig-Holstein. 2020 gewann er mit einer Science-Fiction-Kurzgeschichte den Libertären Literaturpreis